Phasen globaler Krisen waren schon immer ganz schlechte Zeiten für Kinderrechte. Die dramatisch gestiegene Zahl an Kinderarbeiter:innen ist nur ein Indiz dafür. Die spürbare Verschlechterung ihres Alltags ein weiteres. Denn dass Familien auf die informellen Arbeit ihrer Töchter und Söhne angewiesen sind, war schon vor Corona der Fall. Doch mit dem Wegfallen der Schulen als zumindest temporären Schutzräumen müssen die rund 160 Millionen arbeitenden Mädchen und Jungen jetzt länger und vielfach unter schlechteren Bedingungen arbeiten. Dadurch ist ihr Recht auf Bildung ist stärker gefährdet als zuvor. Genauso wie ihre Zukunft.
Von Jürgen Schübelin
COVID-19 zwingt mehr Kinder zur Arbeit
Aktuell sehen sich weltweit rund 160 Millionen bzw. eines von zehn Kindern zwischen fünf und 17 Jahren gezwungen zu arbeiten. 8,4 Millionen mehr als noch vor vier Jahren. Fast die Hälfte von ihnen ist dabei ausbeuterischen und gefährlichen Bedingungen ausgesetzt. Das setzt Gesundheit, Sicherheit, Ausbildung und persönliche Entwicklung dieser Kinder aufs Spiel. Dabei erfassen die jüngsten Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) lediglich die Anfangsphase der COVID-19-Pandemie. Schätzungen gehen davon aus, dass bis Ende 2022 weltweit weitere neun Millionen Mädchen und Jungen in Kinderarbeit gedrängt werden könnten. Dabei sieht das Ziel 8.7 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung vor, jegliche Form von Kinderarbeit bis 2025 zu beseitigen.
Jobverlust und Schulschließungen erklären den bitterer Rückschlag
Seit Beginn der Pandemie sind (extreme) Armut und damit Hunger in vielen Ländern stark gestiegen. Das Einkommen der Eltern reicht selten bis gar nicht, um die Familie mit dem Nötigsten zu versorgen. Deshalb müssen immer mehr Kinder mit ihrer informellen Arbeit zum Lebensunterhalt beitragen. Corona-bedingter Erwerbsverlust der Erwachsenen und Schulschließungen haben die Hemmschwelle weiter sinken lassen. Der ILO-Bericht sieht dabei speziell diejenigen Mädchen und Jungen gefährdet, die bereits vor der Pandemie als Kinderarbeiter:innen tätig waren. Denn Schulen haben ihnen zumindest temporäre Schutzräume ermöglicht. Jetzt müssen sie länger und vielfach unter schlechteren Bedingungen arbeiten. Und werden in vielen Fällen in die schlimmsten Formen von Kinderarbeit gezwungen.
Chile: Heimlich Verschlechterung für Kinderarbeiter:innen
Das Schwellenland Chile erlebt bereits seit Oktober 2019 und dem Beginn der landesweiten Revolte gegen das neoliberale Wirtschafts-, Finanz- und Politiksystem den extremsten Niedergang seit Jahrzehnten. Nicht erst als Folge der Pandemie befindet sich der 31. OECD-Mitgliedsstaat in einem sozialen und wirtschaftlichen Abwärtsstrudel. Was arbeitende Kinder dabei als Verschlechterungen ihrer Lebensbedingungen erleben, manifestiert sich eher im Schatten. Leise und von der Öffentlichkeit im Land kaum wahrgenommen. Sechs Mädchen und Jungen im Alter zwischen zehn und 15 Jahren aus der Hafenstadt Coronel in Südchile und der Nordperipherie der Hauptstadt Santiago de Chile schildern, wie sie ihren veränderten Alltag und ihre Arbeitssituation erleben.
Antonio ist Fischer
Seit er acht Jahre alt ist, fischt der 13-Jährige im Golfo de Arauco vor der Küste von Coronel. Und zwar immer spätabends, denn dann ist Flut. Dafür muss er sich an den Marine-Soldaten, die den Strand kontrollieren, vorbeischleichen. Sonst kommt er nicht zu seinem kleinen Boot und kann nicht unbemerkt hinausrudern.
„Wegen Corona gibt es Ausgangssperren. Deshalb darf ich mich auch nicht von den Pacos (Polizisten) auf dem Weg zum Strand erwischen lassen. Manchmal, wenn starker Wind weht und die See rau ist, muss ich abbrechen und unverrichteter Dinge zurückkehren. An guten Tagen kann ich die Fische, die ich gefangen habe, direkt am Strand verkaufen. Was ich nicht loswerde, bringe ich nach Hause mit. Dann haben wir wenigstens etwas zu essen. Mit dem Schulunterricht online klappt es nicht immer. Wegen der Arbeit am späten Abend bin ich oft am anderen Morgen noch sehr müde.“
Carlos will den Anschluss in der Schule nicht verlieren
Aber der 13-Jährige muss auf dem Markt in Coronal mithelfen, weil seine Familie das Geld dringend braucht. Jeden Tag erlebt er, wie sich die Leute, die auf den Markt kommen, einschränken müssen. Um jedes Kilo Kartoffeln wird gefeilscht. Oft werden nur ganz kleine Mengen eingekauft, für mehr reicht es einfach nicht. Das war vor Corona anders. Aber hier in Coronel haben so viele Erwachsene die Arbeit verloren, vor allem auch, weil unten am Hafen nichts mehr los ist. Als die Regierung wochenlange Quarantänen verhängte, wurde den Arbeitern einfach gekündigt. Jetzt versuchen die Leute, irgendetwas anderes zu tun, um ein bisschen Geld zu verdienen. Aber wenn kaum jemand etwas zum Ausgeben hat, ist das schwierig.
„Meine Eltern haben sich mit Corona angesteckt. Wir mussten einen ganzen Monat mit allen im Haus bleiben, niemand durfte raus. Am Ende haben wir die Nachbarn um Hilfe gebeten, weil wir überhaupt nichts mehr zu essen hatten. Das war eine ganz schlimme Zeit. Zum Glück sind jetzt alle wieder gesund.“
Mario versucht, sich mit Maske und Handschuhen zu schützen
Um 6 Uhr in der Früh geht es für den 14-Jährigen los: Aufbauen, Obstkisten schleppen, den Stand herrichten. Abends so gegen 17 Uhr ist er fertig. An guten Tagen kann er mit seiner Arbeit auf dem Markt in Coronal rund 10.000 Pesos (11 Euro) verdienen. „Und die brauchen wir zu Hause wirklich dringend.“
Wenn die Regierung Lockdowns anordnet, muss er trotzdem raus. „Was mir Angst macht, ist, dass viele Leute immer noch nicht verstanden haben, wie gefährlich Corona ist. Wir haben vor dem Marktstand ein Seil gespannt, damit die Kunden nicht zu nahekommen. Trotzdem kommen ständig Leute ohne Masken auf den Markt und halten keinen Abstand.“
Abends nach der Arbeit versucht der 14-Jährige, den Schulunterricht des Tages auf dem Handy anzuschauen. „Das schaffe ich aber nicht immer, weil ich einfach zu ausgepowert bin.“ So geht es ganz vielen aus Marios Klasse.
Bernadita sehnt ihr altes Leben zurück
Die Eltern der 15-Jährigen haben durch Corona ihre Arbeit verloren. Wie so viele andere auch. Deshalb haben sie anfangen, zu Hause Brot zu backen und dann zu verkaufen. Das ist jetzt Bernaditas Arbeit. Außerdem arbeitet sie – wenn das Internet funktioniert – in den sozialen Netzwerken, um irgendwelche Dinge, vor allem Kleidung, aber auch Haushaltsgegenstände zu verkaufen. „Da geht ganz schön viel Zeit drauf, und der Verdienst ist oft sehr gering. Trotzdem kenne ich viele andere Kinder, die ebenfalls angefangen haben, ständig irgendetwas zu verkaufen.“
Mit dem Online-Unterricht und der Schule tut sie sich schwer. Seit fast anderthalb Jahren gibt es keinen Unterricht im Klassenzimmer mehr. Ganz viele ihrer Schulkamerad:innen haben keine guten Handys oder Laptops, um dem Unterricht folgen zu können. Außerdem fällt der Strom oft aus oder das Internet ist zu schwach.
Jeancarlo tanzt den chilenischen Nationaltanz „Queca“
Er kommt aus Peru. Er lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder in Vivaceta im Stadtteil Indendencia, Santiago. Die alleinerziehende Frau arbeitete viele Jahre illegal als Hausangestellte puerta adentro (also ohne abends nach Hause zurückkehren zu dürfen) für eine chilenische Familie. Als Corona ausbrach, wurde sie sofort entlassen. „Für uns begann im März 2020 ein Albtraum. Wir hatten ganz schnell nichts mehr zu essen. Nur durch die ollas comunes (Suppenküchen) und die Lebensmittel- und Hygienepakete kamen wir irgendwie über die Runden.“
Dann fingen Jeancarlo, sein Bruder und seine Mutter an, Kunsthandwerk herzustellen. Die Kunstledergegenstände verkaufen sie dann auf der Straße. Der Junge zieht mit einem kleinen Wägelchen los und bietet den Leuten ihre Waren an, die sie zu Hause angefertigt haben. Manchmal ergattert er auch einen Job auf einer Baustelle. Oder er tanzt für eine kleine Spende mit einer Freundin vor der Markthalle. „Mir hilft es, zu arbeiten und so meine Mutter unterstützen zu können.“
Was die Schule anbelangt, hatte der Junge das Glück, dass seine Mutter, als sie noch Geld verdiente, einen gebrauchten Computer kaufen konnte. „So schaffe ich es an einigen Tagen, beim online-Unterricht dabei sein. Ich schätze mal, dass wir nur noch die Hälfte der Kinder aus unserer Klasse sind, der das gelingt. Aber ich würde mir so wünschen, einen etwas besseren Computer zu haben.“
Sahory arbeitete am Fischstand, jetzt kocht sie
Morgens um 7 Uhr ging es los. Gegen 18 Uhr war sie fertig. Mit acht Jahre alt fing die heute 15-Jährige an, ihrer Mutter am Fischstand zu helfen. Sie nahme die Fische aus, bediente Kunden und kassierte. Lohn bekam sie dafür keinen, denn der Marktstand war von ihrem Onkel gepachtet. Da in den schlimmsten Phasen der Corona-Pandemie deutlich weniger Leute auf den Markt kamen und weniger Geld für Fisch ausgaben, waren die wirtschaftlichen Verluste heftig. Auch weil die Standmiete nicht gesenkt wurde. „Ganz schlimm aber wurde es, als sich meine Mutter mit Corona und danach mit einer schweren Lungenentzündung ansteckte. Da konnten wir nicht mehr auf den Markt.“ Seitdem beginnen Mutter und Tochter um sechs Uhr in der Früh, zu Hause peruanisches Essen zuzubereiten. Sahory zieht dann los und versucht, das Essen auf der Straße zu verkaufen.
„Ich spüre, dass sich die Stimmung im Land massiv verändert hat: Schon am Fischstand fiel mir auf, wie schlecht es vor allem älteren Menschen geht. Sie haben nur noch ganz wenig im Geldbeutel und die größte Angst, sich mit Corona anzustecken. Und als die Regierung dann für kurze Zeit Lebensmittelkartons verteilte, war das das pure Chaos. Leute, die wussten, dass wir so viele Jahre an einem Fischstand gearbeitet hatten, klopften immer wieder bei uns an. Sie bettelten um etwas zu essen, auch als wir selbst schon nichts mehr hatten. Das hat uns sehr traurig gemacht.“
Was die Schule anbelangt, konnte das Mädchen dem Online-Unterricht nicht folgen. Sie hatte große Schwierigkeiten und fühlte sich durch die komplizierte Situation zu Hause extrem gestresst. Dazu kam, dass der Online-Unterricht in ihrer Schule monatelang nicht reibungslos funktionierte. Sahory hatte zunächst gar keinen Computer, erst sehr viel später lieh ihr die Schule dann doch ein Tablet. Trotzdem hat ihre Familie jeden Peso gespart, um das Internet bezahlen zu können. Dank des Teams im Projekt schaffte sie es mit anderen Kindern zusammen, zumindest einen Teil des Unterrichtsstoffs aufzuholen und Lücken zu schließen.
Sahory musste lernen, sich zu verteidigen
„Was mir insgesamt auffällt, ist, wie der Rassismus in Chile durch Corona noch brutaler geworden ist. Die chilenische Gesellschaft war immer schon sehr rassistisch, feindlich und aggressiv gegenüber denjenigen, die aus ärmeren Ländern hierherkommen. Die Angst unter uns Immigranten hat zugenommen.“
Aber das hatte das junge Mädchen schon vor der Pandemie in der Schule gespürt. Da gab es Mobbing und sehr viel Diskriminierung gegnüber Schüler:innen mit dünklerer Hautfarbe. Am brutalsten würde mit Menschen aus Haiti umgegangen, die meist keine Dokumente besitzen. Was sie selbst anlangte, musste sie lernen, sich zu verteidigen. Sie suchte nach klugen Strategien, um sich vor dem Rassismus in ihrem Umfeld zu schützen und sich durch aggressive Sprüche und Gesten nicht verletzten zu lassen. „Das wichtigste ist, keine Angst zu zeigen – auch nicht gegenüber der Polizei bei Kontrollen auf der Straße. Deshalb interessiere ich mich sehr für meine Rechte. Mein großer Traum wäre, entweder Sozialarbeiterin oder Anwältin zu werden.“
Danksagung: Ganz herzlichen Dank an Antonio, Mario, Bernadita und Carlos aus Coronel – sowie Jeancarlo und Sahory aus Santiago für ihre Beiträge – sowie den beiden Sozialarbeitern Alejandro Gutiérrez und Amanda Bélen aus dem Protagoniza-Team – genauso wie der Pädagogin und Anwältin María Elena Vásquez Rodríguez vom Kindernothilfe-Projekt Niñas y Niños sin Fronteras für die Kindesschutz-Begleitung der hier dokumentierten Gespräche und Claudia Vera vom Kindernothilfe-Partner Fundación ANIDE für die logistische Vorbereitung der Online-Interviews.