Trotz boomender Wirtschaft leben in Indien Millionen Menschen in extremer Armut. Auch ausbeuterische Kinderarbeit ist weit verbreitet. Durch die Coronapandemie ist die Schere zwischen Arm und Reich noch größer geworden. Samira Rahim und Arulraj Daje von der Kindernothilfe in Indien berichten von der aktuellen Situation arbeitender Kinder vor Ort.
Mehr Kinderarbeit und Kinderhandel durch COVID-19
Die Coronapandemie hat Indien schwer getroffen. Hunderttausende Menschen sind an der Infektion gestorben, Millionen erkrankten schwer. Die Pandemie und der anschließende Lockdown hatten gravierende Folgen für die wirtschaftliche Situation im Land. Viele Familien sind in die Armut abgerutscht. Wie wirkt sich das auf Kinderarbeit aus?
Samira Rahim: Durch COVID-19 haben viele Menschen ihre Arbeit und viele Familien ihre Existenzgrundlage verloren. Ärmere Familien haben jetzt noch weniger Einkommen. Das Erste, was sie dagegen unternehmen, ist, ihre Kinder arbeiten zu schicken. Ärmeren Familien fällt es jetzt noch schwerer, ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Kinder zum Haushaltseinkommen beitragen.
Arulraj Daje: Ausbeuterische Kinderarbeit ist aber auf viele verschiedene Ursachen zurückzuführen. Dazu gehören auch unethische Geschäftspraktiken, die weit verbreitete Korruption und das Handeln der politischen Verantwortungsträger:innen. Auch die Einstellung der Menschen, die in Armut leben, trägt dazu bei.
Samira Rahim: Nach dem Lockdown haben auch Fälle von Kinderhandel zugenommen. Viele Familien befanden sich in einer finanziellen Notlage und die Kinder konnten ein Jahr lang nicht zur Schule gehen. Deshalb waren viele Familien anfälliger für die verlockenden Angebote von Menschenhändler:innen. Um das Problem des Kinderhandels anzugehen, müssen wir auf zwei Ebenen ansetzen: Einerseits Prävention und andererseits Hilfe für die Kinder, die bereits Opfer von Kinderhandel geworden sind.
Arulraj Daje: Ein verstärkter Einsatz für Kinderrechte – vor allem über gute Bildung und Chancengleichheit – ist der beste Weg, um gegen Kinderhandel vorzugehen. Außerdem bedarf es Anti-Kinderhandel-Komitees auf lokaler Ebene. Sie behalten die Anzahl der Kinder aus ärmeren Familien genau im Auge und arbeiten mit den Regierungsbehörden zusammen. Auch der Einsatz von sozialen Medien kann hilfreich sein. Darüber können wir zum Beispiel die Notrufnummer für Fälle von Kinderhandel kommunizieren.
Die Urbanisierung in Indien nimmt weiter zu
Auch die zunehmende Landflucht hat Auswirkungen auf die Kinderarbeit im Land. Viele mittellose Familien zieht es von ländlichen Regionen in die Metropolen, wo sie oft in Slums landen. Viele Kinder arbeiten auf riesigen Müllhalden. Wie kann die Situation dieser Kinder und Familien verbessert werden?
Arulraj Daje: Die fortlaufende Abwanderung von landwirtschaftlich geprägten Familien ist eine sehr große Herausforderung. Wenn die Familien vom Land in die Stadt kommen, müssen sie sich Arbeit suchen. Auch viele Kinder müssen zum Familieneinkommen beitragen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, braucht es bessere Voraussetzungen in den ländlichen Räumen, sodass niemand zum Abwandern gezwungen wird. Neben der Arbeit mit den betroffenen Kindern in der Stadt ist es auch wichtig, die Ursachen von Kinderarbeit anzugehen.
Samira Rahim: In Delhi betreuen wir ein Projekt für Kinder, die den Großteil ihrer Zeit auf einer Müllhalde verbringen, wo sie die Abfälle durchsuchen. Dabei sind sie nicht nur gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, ihnen fehlt es auch an Bildung. Deshalb betreiben wir ein Kinderzentrum, wo diese Kinder Zugang zu guter Bildung erhalten. Gleichzeitig wird ihnen ein Bewusstsein für Kinderrechte vermittelt. Eine weitere wichtige Maßnahme ist das Ausstellen von Personalausweisen. Die meisten Familien, die aus den ländlichen Gebieten in die Stadt kommen, besitzen keine offiziellen Papiere. Somit sind sie von staatlichen Sozialleistungen ausgeschlossen.
Viele Kinder arbeiten in Schuldknechtschaft
In Indien ist die Schuldknechtschaft schon längst gesetzlich verboten. Trotzdem arbeiten viele Kinder noch immer in Schuldknechtschaftsverhältnissen. Wie kommt es zu dieser Art der Kinderarbeit und was kann dagegen unternommen werden?
Samira Rahim: Viele Familien geraten in Schuldknechtschaft, weil sie sich Geld leihen. Das brauchen sie zum Beispiel wegen eines Krankheitsfalls oder für eine Hochzeit in der Familie, oder einfach nur um die Familie zu ernähren. Doch im ländlichen Raum ist es schwer, an einen Kredit zu kommen. Deshalb müssen sich die Familien an örtliche Geldverleiher:innen wenden. Diese lassen dann die Kinder der Familie für sich arbeiten, um so die Schulden zu begleichen. Die Geldverleiher:innen verlangen oft sehr hohe Zinsen und zahlen dem Kind zugleich nur einen geringen Lohn. Deshalb kommen die Familien nur sehr schwer aus dem Teufelskreis der Schuldknechtschaft und Kinderarbeit heraus.
Arulraj Daje: Es gibt verschiedene Maßnahmen, um gegen Schuldknechtschaft vorzugehen. Ich bin überzeugt, dass vor allem lokale gemeinschaftsbasierte Organisationen eine wichtige Rolle spielen, wie Selbsthilfegruppen, Jugendgruppen und Kinderkomitees.
Samira Rahim: Das Verbot von Schuldknechtschaft muss in Indien konsequenter umgesetzt werden, etwa durch lokale Aufsichtskomitees. Menschen in finanzieller Not müssen einfacher Zugang zu Krediten erhalten sowie zu Aus- und Weiterbildungen und Programmen der sozialen Sicherung.
Der Einfluss des indischen Kastenwesens
Das Kastenwesen ist in Indien traditionell noch sehr verankert. An unterster Stelle steht die Dalit-Kaste der „Unberührbaren“. Wie wirkt sich diese Gesellschaftsordnung auf die Kinderarbeit aus?
Arulraj Daje: Kinder aus der untersten Kaste müssen oft arbeiten und Geld verdienen – weil die Familie sonst nicht über die Runden kommt oder weil die Eltern es einfach nicht besser wissen. Oft verstehen sie den Wert von Bildung für ihre Kinder nicht.
Samira Rahim: Die Kinder aus der unteren Kaste arbeiten vor allem in niederen Tätigkeiten. Sie sammeln zum Beispiel Lumpen und Müll oder fertigen Schuhe an. Kinder aus einer höheren Kaste arbeiten eher in Lebensmittelgeschäften, auf Veranstaltungen oder im Haushalt. Sie werden außerdem besser bezahlt als Kinder der unteren Kaste. Hinzu kommt, dass die Kinder aus Dalit-Familien Diskriminierung am Arbeitsplatz erfahren. Sie müssen zum Beispiel abseits sitzen und von separatem Geschirr essen (praktizierte Unberührbarkeit). Eine solche Diskriminierung von Dalit-Kindern findet auch in der Schule statt. Deshalb verlassen viele die Schule vorzeitig und geraten in ausbeuterische Kinderarbeitsverhältnisse.
Ungleichbehandlung von Frauen und Mädchen
In Indien werden Frauen und Mädchen bis heute benachteiligt. Gewalt gegen Frauen, Zwangs- und Frühverheiratungen und ein schlechterer Zugang zu Bildung sind weiterhin verbreitet. Zeigt sich dieser Unterschied auch beim Thema Kinderarbeit?
Samira Rahim: Allgemein arbeiten Mädchen eher im Haushalt, auf der Müllhalde oder in der Schönheitsindustrie. Von Kinderarbeit betroffene Jungen sind eher in der Landwirtschaft, in Geschäften oder Ziegeleien tätig. Außerdem sind Mädchen größeren Gefahren am Arbeitsplatz ausgesetzt, vor allem in Form von sexuellem Missbrauch. Einige arbeitende Mädchen landen sogar in der Kinderprostitution. Dann befinden sie sich in einer besonders prekären Lage. Die Familien sind oft nicht mehr bereit, ihre Töchter zu versorgen, weil diese mit einem so großen gesellschaftlichen Stigma behaftet sind.
Arulraj Daje: In einer männerdominierten Welt werden Mädchen nach wie vor benachteiligt. In einigen Regionen ist das Risiko der Frühverheiratung besonders hoch. Diese Verheiratung im Kindesalter führt unvermeidlich zu einem Mangel an Bildung und zu Kinderarbeit. Die Regierung hat erst kürzlich einen Anstieg an Frühverheiratungen in fünf Bezirken des Bundesstaates Tamil Nadu festgestellt und setzt sich nun verstärkt dagegen ein.