Am 26. Juni 1945 unterzeichneten damals 50 Staaten die Charta der Vereinten Nationen. Die gemeinsamen Ziele: Durch internationale Kooperation soziale und humanitäre Krisen bewältigen, global für Menschenrechte eintreten und den Weltfrieden sichern. Wie genau steht es 75 Jahre später um die Erfüllung dieser Ziele, denen sich mittlerweile 193 Staaten verschrieben haben? Und welchen Stellenwert hat der Schutz von Kindern und Jugendlichen? Darum geht es in dieser Beitragsreihe. Teil 2 wirft einen Blick auf den UN-Kinderrechtsausschuss.
Text: Markus Aust
Kinder haben Rechte!
Der UN-Kinderrechtsausschuss besteht aus insgesamt 18 Personen, die jeweils für vier Jahre Teil des UN-Organs sind. Alle Mitglieder haben sich als Experten auf dem Gebiet der Menschenrechte hervorgetan. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, die im September 1990 in Kraft getreten ist, zu überprüfen. Diese spricht Kindern grundlegende Rechte zu: unter anderem das Recht auf Bildung, den Schutz vor Gewalt, das Verbot von jeglicher Form der Diskriminierung oder die Gewährleistung des Wohlbefindens und der Gesundheit.
Um die Einhaltung dieser Rechte zu kontrollieren, müssen die 196 Staaten, die die Konvention anerkannt haben, alle fünf Jahre an den Kinderrechtsausschuss berichten. In diesen Reports, auch Staatenberichte genannt, erläutern sie den Kinderrechts-Experten, was sie in den zurückliegenden Jahren zur Stärkung der Rechte für Kinder unternommen haben. Der Ausschuss, der in Genf tagt, prüft die Berichte sorgsam und äußert Bedenken, Kritik und Handlungsempfehlungen in Form von „Abschließenden Bemerkungen“.
Vom Kinderrechtsausschuss moniert: Die Lücke im Grundgesetz
Zu häufig jedoch bleibt es bei diesen „Kommentaren“, die allgemein eher als Empfehlungen angesehen werden – es mangelt dem Organ an Durchsetzungskraft. Deutschland liefert hierfür das beste Beispiel: Am 26. Januar 1990 unterzeichnete die Bundesrepublik die Konvention für die Kinderrechte und erkannte damit auch den Kinderrechtsausschuss und seine Aufsichtsfunktion an.
In den Abschließenden Beobachtungen zu sämtlichen Berichten der Bundesrepublik fordern die UN-Kinderrechtsexperten seitdem mit Nachdruck die Verankerung aller Absätze der Kinderrechtskonvention im Grundgesetz – bis heute vergebens. 13 Millionen Kindern in Deutschland fehlt es bislang an der Möglichkeit, ihre anerkannten Rechte im Rahmen der geltenden Verfassung vollumfänglich einzufordern.
Im aktuellen Koalitionsvertrag ist hierzu die Ausarbeitung eines alternativen, „ausdrücklichen Kindergrundrechtes“ vorgesehen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) legte im November 2019 dazu einen Entwurf zur Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz vor, doch der stieß auf breite Kritik. Der Entwurf, so der Vorwurf, erfülle nicht die internationalen Vorgaben zur Besserstellung von Kindern und bleibe damit sogar hinter der UN-Kinderrechtskonvention zurück. Zum aktuellen deutschen Staatenbericht vom 4. April 2019 konnte sich der UN-Kinderrechtsausschuss wegen geltender Covid-19-Auflagen noch nicht äußern. Seine Empfehlungen sind erst Anfang 2021 zu erwarten.
Erschreckende Zahlen über Strafdelikte
Es ist wichtig hervorzuheben, dass es hierbei nicht nur um juristische Spitzfindigkeiten geht. Die Kontrolle und Umsetzung von Kinderrechten lassen selbst in Deutschland zu wünschen übrig. Dies belegen teils erschreckende Opferzahlen.
So meldet die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes für 2019 zwar insgesamt einen Rückgang der registrierten Straftaten – Deutschland ist demnach aktuell so sicher wie seit 1992 nicht mehr. Nur leider gilt dieser Trend nicht für unsere Kinder: Jeden Tag werden 43 Fälle sexueller Gewalt an Kindern angezeigt, die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Wöchentlich sterben drei Kinder an den Folgen schwerer körperlicher Misshandlungen. Die Anzahl kinderpornografischer Straftaten ist verglichen zum Vorjahr um 65 Prozent gestiegen. Auch weltweit greift sexualisierte Gewalt im digitalen Kontext massiv um sich – eine Entwicklung, die Kinderrechtsorganisationen und auch der UN-Kinderrechtsausschuss mit Sorge beobachten.
Auch die Ungleichheit nimmt zu
Zudem sieht es nicht so aus, als ob diese Entwicklungen im 75. Jubiläumsjahr der UN rückläufig sein werden – im Gegenteil. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sorgen schon jetzt in Deutschland und weltweit für einen Anstieg der häuslichen Gewalt gegen Kinder. Der Grund: Die anhaltende Ausnahmesituation wirkt sich negativ auf das Zusammenleben in den Familien aus. Räumliche Beengtheit schafft mehr Gelegenheiten für Übergriffe, zudem schürt die Arbeitslosigkeit Existenzängste, die wiederum der Nährboden für weitere Gewaltakte sein können. Die Bedrohung nimmt zu anstatt ab.
Doch nicht nur die steigende Zahl der Strafdelikte ist ein Grund zur Sorge. Auch die weltweit wachsende Ungleichheit bringt verheerende Folgen mit sich. Dem Ungleichheitsbericht der Hilfsorganisation Oxfam zufolge besitzt das reichste Prozent der Weltbevölkerung 45 Prozent des weltweiten Reichtums. Diese Entwicklung wirkt sich unter anderem massiv auf das Wohlergehen von Kindern aus.
Die Auswirkungen sind auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland zu erkennen: Rund 21 Prozent aller Kinder im Bundesgebiet leben über eine Zeitspanne von mindestens fünf Jahren dauerhaft oder wiederkehrend in einer Armutssituation. Schätzungen zufolge hat sich die Zahl der wohnungslosen Kinder seit 2008 mehr als verdoppelt. Darüber hinaus fällt die Erfolgsquote des Inklusionsunterrichts in einzelnen Bundesländern unterschiedlich stark aus – und entlarvt den Trend von Ungleichheit somit auch im Bereich der Bildung. All dies sind Dinge, die der UN-Kinderrechtsausschuss in seinen Stellungnahmen bewertet.
Es muss mehr getan werden
Vor den dadurch hervorgerufenen körperlichen und seelischen Leiden und Beeinträchtigungen sollten alle Kinder auf bundesdeutschem Boden durch die UN-Kinderrechtskonvention geschützt sein. Auch 30 Jahre nach der Verpflichtung zu deren Umsetzung bleibt jedoch festzustellen, dass gleich mehrere Kinderrechte in Deutschland mitunter massiv missachtet werden. Gleichzeitig bezeichnet die Bundesrepublik deren Verwirklichung in ihrem Staatenbericht an den UN-Kinderrechtsausschuss als „zentralen Bezugspunkt staatlicher Politik in Deutschland“.
Zu dem Ergebnis, dass das nicht zusammenpasst, kommt auch das Deutsche Institut für Menschenrechte. Die Institution ist seit 2015 mit einer unabhängigen Überprüfung der deutschen Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention beauftragt. In diesem Zuge begutachtete das Institut auch die Bemühungen Deutschlands, die im jüngsten Staatenbericht dokumentiert sind.
Auch die Kindernothilfe macht sich für Kinderrechte stark
Beim Abgleich mit den Zielforderungen der UN-Kinderrechtskonvention stellt der sogenannte Parallelbericht viele akute Baustellen fest. Vor allem in den Bereichen Schutz vor Gewalt, inklusive Bildung, Kinderarmut, Schutz geflüchteter Kinder sowie Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe sehen die Autoren Nachholbedarf.
Viele der Forderungen gehen auf Anregungen der sogenannte National Coalition für Kinderrechte (NC) zurück, einem Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Dieses Bündnis aus über 100 NGOs setzt sich seit 1995 für die Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland ein.
Auch die Kindernothilfe ist Mitglied dieses Netzwerks. Seit 60 Jahren verhilft sie Kindern zu ihren elementaren Rechten und bietet ihnen eine Starthilfe ins Leben, egal ob es um Zugang zu Bildung, faire Arbeitsbedingungen oder Hilfe zur Selbsthilfe geht. Aufgrund ihres langjährigen Einsatzes für Kinderrechte weltweit ist sie eine der treibenden Kräfte für die Umsetzung der Kinderrechtspflichten Deutschlands im Hinblick auf zwischenstaatliche Beziehungen – und gleichermaßen für die überfällige Aufnahme der UN-Kinderrechtskonvention in das Grundgesetz.
Im Sinne eben dieser Kinder bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung den Forderungen nachkommt und ihren eigenen Ansprüchen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonventionen endlich gerecht wird.