Von Erika Harzer (eha-media.de / Zeit Online)
Zur Jahrtausendwende wurde ich als Expertin in ein EU-Projekt nach Honduras „entsandt“. Seitdem beschäftige ich mich mit Migrationsbewegungen aus Honduras, Guatemala und El Salvador in die USA. Diese Erfahrung prägt mich bis heute: Als deutsche „Arbeitsmigrantin“ mit einem – verglichen mit den Einkommen meiner honduranischen Kolleg*innen – hohen Honorar kam ich in ein Land, das schon damals zu den ärmsten Ländern der Region gehörte und aus dem viele Menschen in die USA migrierten, da sie ihre Familien mit den vorhandenen Jobs nicht ernähren konnten. Getrennte Familien, Kinder, die ohne Väter oder direkt bei Großeltern oder Tanten aufwuchsen, all das war normal. Warum das so ist und was das mit den Menschen macht – diese Fragen begleiten mich, seitdem ich in diese sehr privilegierte Situation kam.
Die Fluchtwege der gegenwärtig neun Millionen Geflüchteten weltweit haben längst Namen bekommen. Sie heißen Balkanroute, westliche oder zentrale Mittelmeerroute, Sahelroute, ostafrikanische Route, Mexikoroute. So als ob sie normale Fortbewegung zuließen. Fast als ob sich dort in regelmäßigen Abständen Raststätten zum Auftanken und Erholen anböten. So als ob die Menschen, die darauf unterwegs sind, von A nach B fahren könnten. Routen eben.
Doch für die aus ihren Heimatorten Geflohenen sind es extrem gefährliche Wege, auf denen sie misshandelt, ausgeraubt, vergewaltigt, verschleppt, erpresst oder sogar umgebracht werden. Auf denen Menschenfänger Lösegelder fordern und wer nicht zahlen kann, wird weggeworfen, entsorgt, irgendwo verscharrt. Tägliche Katastrophen, von denen wir nur dann erfahren, wenn mal wieder ein Boot im Mittelmeer kentert, wenn größere Gruppen ums Leben kommen, wenn ungewöhnlich viele Menschen auf einmal unterwegs sind – oder wenn ein kleines Kind an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt daliegt und sein lebloser Körper die existierende Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft wortlos manifestiert, wortlos anklagt.
Den Zahlen der Unbekannten aus den Statistiken, die darüber hinaus noch bleiben, wollte und will ich Geschichten einiger der dort erfassten Menschen gegenüberstellen. Seit 2002 drehte ich zu diesem Thema Dokumentarfilme, machte kurze und lange Radiofeatures, ich schrieb darüber zwei Kurzgeschichten sowie Print- beziehungsweise Fotoreportagen. Mit diesen Arbeiten wollte ich sensibilisieren und speziell auf die mittelamerikanischen Migrationsprobleme aufmerksam machen. Die Unsichtbaren sichtbar machen, den Rechtlosen zu Recht verhelfen, zu Würde.
Dafür fuhr ich auf der Bestia mit, einem dieser Güterzüge, auf denen Hunderttausende durch Mexiko unterwegs sind. Ich besuchte vom Zug Abgestürzte, die zwar überlebt hatten, aber durch Bein- oder Armamputationen verstümmelt zurückblieben und anstatt für die Familie sorgen zu können, nun auf Fremdhilfe angewiesen sind. Mehrere Tage suchte ich mit mittelamerikanischen Müttern deren in Mexiko verschwundenen Söhne und Töchter – in den Rotlichtvierteln, in Gefängnissen und Abschiebeknästen oder einfach auf den Zentralplätzen der Städte entlang der Bahnlinie. Ich fuhr in die Herkunftsländer der Menschen, suchte ihre Heimatorte auf, sprach mit Verwandten, Nachbar*innen, mit Politiker*innen und Menschenrechtsaktivist*innen. Ich besuchte eine Abschiebestation in den USA, filmte die Personalbefragung von Migrantinnen und Migranten, die Kontrollmonitore. Und ich besuchte eine Aufnahmestelle für Mütter mit Kindern, die aus Mexiko per Bus zurück nach Honduras deportiert wurden. Und ich traf mich mit einem sogenannten Coyoten, einem Schleuser, der mir detailliert offenlegte, wer alles auf dem langen Weg von Honduras bis in die USA an diesem Schleusen gut verdient, von den Grenzbeamten über Polizistinnen und Militärs.
Sehr viele Geschichten habe ich mir in diesen Jahren angehört, Geschichten voller Gewalt, voll Angst und unfassbarem Leid. Geschichten, die diese Menschen zur Flucht oder Migration getrieben haben. Geschichten, die sie auf dem Weg erlebt haben. Und immer auch die Hoffnungen auf ein besseres Leben, ein Leben ohne Gewalt und Angst, ein Leben, in dem sie ihren Kindern eine Perspektive bieten können.
Ein winziges Mosaiksteinchen
Unterwegs traf ich auf Anfang 20-jährige Mütter, die leeren Blicke ihrer Kinder ließen mich nicht mehr los, drei, vier stumme Kinder, neben ängstlichen Müttern. Ein 15-jähriger Junge aus Honduras erzählte mir, dass er in seiner Flucht Richtung USA die einzige Chance gesehen habe, seine Eltern aus den Schutzgeldzahlungen an bewaffnete Jugendbanden befreien zu können. Den Entschluss fasste er ganz für sich allein, nachdem die Bande den Eltern 24 Stunden gegeben hatte, zu zahlen oder zu verschwinden.
Mit rund sieben Euro in der Tasche zog er los, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, wie weit die USA von seinem Zuhause entfernt sind. Oder der 14-jährige Junge aus dem Hochland von Honduras, der in den USA Arbeit suchen wollte, um seine kranke Mutter zu versorgen, aber schon im Süden von Mexiko von der Bestia stürzte und nur durch Amputation überleben konnte. Oder zwei minderjährige Freundinnen aus El Salvador, die gleich beim Grenzübertritt nach Mexiko von sie kontrollierenden Männern in die Büsche gezogen, vergewaltigt und beraubt wurden. Oder die junge Salvadoranerin, die beim Sturz von der Bestia beide Beine verlor. Oder die Anfang 20-jährige Honduranerin, die aufgrund von Morddrohungen Hals über Kopf loszog, die kleine Tochter den Eltern hinterließ.
Direkt nach ihrem Grenzübertritt in Mexiko wurde sie von Menschenhändlern verschleppt, vergewaltigt, geprügelt und in ein Bordell gebracht. Monatelang wurde sie dort tagtäglich, unter Drogen gesetzt, misshandelt. Dann ihr Fluchtversuch, bei dem ihre Peiniger auf sie schossen und sie verbluten lassen wollten. Sie hatte Glück, trotz der acht Kugeln, die in ihren Körper eindrangen. Überlebte. Gezeichnet mit äußeren und inneren Narben und einer tiefen Angst vor dem Leben. Ein Fass ohne Boden. Schwierige Themen, geografisch zu weit weg und daher von den Redaktionen in normalen Zeiten selten gewünscht.
2014 sprach der damalige US-Präsident Barack Obama von einer humanitären Katastrophe, als sich Tausende unbegleitete Minderjährige aus den mittelamerikanischen Ländern nach ihrer Grenzüberquerung den US-Migrationsbehörden stellten. Drei Redaktionen beschlossen eine Koproduktion und beauftragten mich für ein 55-Minuten-Feature. Das gewährte mir eine lange Recherchereise, am Ende stand das Stück „Wenn Kinder nur noch weg wollen – Der mittelamerikanische Exodus“. Eine seltene Möglichkeit für mich, ausführlich über dieses Thema zu berichten, und doch nur ein winziges Mosaiksteinchen des Gesamtbildes weltweit von Menschen auf der Flucht.
Immer wieder sehe ich die Gesichter der Menschen, die mir von ihrem Leben erzählt haben. Teile ihrer Geschichten verfolgen mich, sie stecken tief in mir, lassen mir keine Ruhe und kommen doch in meinem deutschen Alltag so unwirklich daher. Ob meine Reportagen jemals über ein spontanes, kurzes Entsetzen ob der Zustände aufgerüttelt haben, weiß ich nicht – vermutlich eher nicht. Die Zahlen der Menschen auf der Flucht steigen und Dramen nehmen zu. Und mich treibt die Frage um, wie es dazu kommen konnte, dass es im 21. Jahrhundert scheinbar als gegeben hingenommen wird, dass Hunderttausende von Menschen an unterschiedlichsten Orten der Welt in künstlich errichteten Zeltstädten unter Beobachtung der internationalen Staatengemeinschaft vor sich hindümpeln. Ihrer Würde beraubt.
Natürlich gibt es Ausnahmen, gibt es Menschen, die sich aktiv einmischen und für die Rechte der Menschen auf den Fluchtrouten dieser Welt engagieren. Das ist es, was mich antreibt, weiter darüber zu schreiben, auch wenn ich manchmal denke, dass mich jedes weitere mir erzählte Drama persönlich an den Rand des Aushaltbaren bringt.
Ganz offensichtlich ist Migration und Flucht nicht durch ein paar Hilfsmaßnahmen auf den Routen zu stoppen, nicht durch Finanzhilfen an meist von Korruption zersetzte Regierungen, nicht durch immer stärker ausgebaute Grenzsicherungen. Es bedarf größerer, wirtschaftspolitischer Veränderungen. Soziale und auch Klimagerechtigkeit müsste auf globaler Ebene angestrebt werden. Und Menschenrechtsverletzungen müssten mit international gültigen Regularien weltweit verurteilt werden können. Jede Stimme ist dafür wichtig. Ich erhebe meine – jetzt auch hier.