Die Mapuche sind die größte indigene Volksgruppe und gleichzeitig ethnische Minderheit in Chile. Aber ihre Rechte werden systematisch missachtet, und sie sind Diskriminierung, Ausgrenzung und Vorurteilen ausgesetzt. Wenig verwunderlich, dass vor allem die in der Großstadt lebenden jüngeren Generationen die eigene Identität zu verleugnen begannen (z.B. durch die Änderung des Namens). Zunehmend verdrängten sie kulturelle Traditionen, Werte und gar die eigene Sprache Mapudungun. Erst seit einigen Jahren besinnen sie sich wieder auf die eigene Kultur und Identität, um sich so gegenseitig zu unterstützen. Gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie ist dies von entscheidender Bedeutung.
Text: Jürgen Schübelin
Die Familie der Mapuche
„Die Menschen der Erde“ werden von der, noch aus den Zeiten der Militärdiktatur stammenden, chilenischen Verfassung nicht als Volk anerkannt. Das führte dazu, dass signifikant mehr Mapuche-Familien in Armut und extremer Armut leben als Nicht-Mapuche-Familien. Sieben der zehn ärmsten Kommunen Chiles liegen im Mapuche-Gebiet Wallmapu.
Die vorherrschenden beengten Lebensbedingungen – vielfach ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und angemessener Abwasserentsorgung – sorgen für einen schlechteren Gesundheitszustand. Die Lebenserwartung ist geringer und die Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit höher. Die unmittelbaren Auswirkungen auf das Bildungsniveau der Mapuche-Familien sind unübersehbar. Unter den Mapuche gibt es sehr viel mehr Analphabeten als im Landesdurchschnitt. Denn die Kinder gehen meist weniger Jahre zur Schule. Ihre Arbeitskraft wird in der Subsistenzlandwirtschaft, von der ihre Familien leben, bereits in frühen Jahren dringend benötigt. Zudem sind die Unterrichtbedingungen in den Schulen, zu denen sie Zugang haben, häufig äußerst prekär.
Corona verschärft die Situation
In der Covid-19-Pandemie zeigt sich, wie wenig die Zentralregierung in der fernen Hauptstadt Santiago die Lebenswirklichkeit einer Mapuche-Familie kennt. Die aktuelle zweite Welle hat zu den höchsten, jemals im Land registrierten Infiziertenzahlen geführt. Deshalb dekretierte das Kabinett von Präsident Sebastián Piñera erneut einen kompletten Lockdown mit strengen Quarantäne-Regeln. Man darf die Wohnung nur zwei Stunden pro Woche verlassen, um einzukaufen und sich mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Und das nur nach vorheriger elektronischer Anmeldung bei der Polizei.
In den kleinen, weitläufig verstreuten Mapuche-comunidades ist das aber faktisch unmöglich einzuhalten. Es bedarf viel mehr als diese 120 Minuten, um in den nächstgelegenen größeren Ort zu gelangen, dort einzukaufen und rechtzeitig wieder zurück zu sein. Folglich kam es in den zurückliegenden Wochen reihenweise zu Verstößen gegen die Corona-Schutzverordnungen. Unzählige Mapuche-Familien wurden von den Carabineros, der chilenischen Polizei, aufgegriffen und mit empfindlichen Strafen belegt. In den sozialen Netzwerken machten Bilder eines brutalen Polizeieinsatzes gegen Mapuche-Bäuerinnen die Runde. Sie hatte trotz Lockdowns versucht, in Temuco etwas Gemüse und andere Feldfrüchte zu verkaufen.
„Wigka-Kuxan“ trifft indigene Gemeinden stärker*
Bereits während der ersten Pandemiewelle war der proportionale Anteil der Corona-Toten nirgendwo so hoch wie in der Wallmapu-Region um Temuco. Zudem entzog die Pandemie vielen Mapuche-Familien fast vollständig ihre Einkommensmöglichkeiten. Durch die strengen Quarantäneregeln brachen seit März 2020 fast alle Jobs im informellen Sektor weg. Ebenso waren Hilfsarbeiten auf Baustellen nicht mehr verfügbar. Die Kleinbauernfamilien in Wallmapu hatten über Monate hinweg so gut wie keine Möglichkeit, ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse oder auch kunsthandwerkliche Produkte wie Web- und Strickarbeiten auf den Märkten anzubieten.
Die Folge: Noch höhere Schulden und noch weniger Geld für Gesundheitsausgaben oder die Bildung der Kinder. Dadurch haben sich Existenzsorgen und Zukunftsängste in den Mapuche-Gemeinden dramatisch verschärft.
Schutzmaßnahmen und Versorgung auf Eigeninitiative
Im südchilenischen Wallmapu entwickeln die Mapuche comunidades immer mehr Selbstorganisations- und Selbsthilfe-Strategien. Dadurch treten sie dem eklatanten Versagen des chilenischen Zentralstaates gegenüber ihrer besonderen Situation in der Krise entgegen.
Viele Mapuche-Gemeinden haben beschlossen, sich durch die Schaffung selbstorganisierter Quarantäne-Zonen vor zusätzlichem Ansteckungsrisiko durch Ortsfremde zu schützen. Selbst wenn das neuerliche Konflikte mit Polizei und Behörden bedeutet, die unbedingt den Zugang zu den Mapuche-Gebieten sicherstellen wollen. Außerdem haben sie sogenannte „ollas comunes“ (gemeinsame Töpfe und solidarische Tafeln) auf die Beine gestellt. So versorgen sie die sozial Bedürftigsten mit Nahrung und Dingen des täglichen Bedarfs. Ähnliche Initiativen bieten landwirtschaftliche Produkte und handwerkliche Dienstleistungen innerhalb und zwischen den verschiedenen comunidades an. Denn die sporadischen staatlichen Lebensmittelverteilungen und Hilfsmaßnahmen waren bislang völlig unzureichend.
Radio- und online-Programme sowie soziale Medien informieren auf Spanisch und Mapudungun, wie man möglichst unbeschadet durch Lockdowns und Quarantänen kommt. Hier engagieren sich vor allem junge Mapuche und erklären immer wieder die wichtigsten Regeln zum Schutz vor einer Covid-Ansteckung. Dabei wird vor allem zur Solidarisierung mit den Ältesten, ebenso ihrem Schutz und ihrer Versorgung aufgefordert. Denn sie spielen als Wissensüberlieferer eine ganz zentrale Rolle innerhalb der Gemeinschaft. Damit ist ihr Wohlergehen unverzichtbarer Bestandteil einer kulturellen und spirituellen Überlebensstrategie in besonders schwierigen Zeiten.
Zunehmendes Bewusstsein für die Rechte indigener Menschen
Innerhalb der chilenischen Mehrheitsgesellschaft kommt es langsam zum Umdenken. Es wachsen Bewusstsein und politischer Wille, der konsequenten Verweigerung der Rechte indigener Menschen und Verneinung ihrer Existenz ein Ende zu setzen. Die „Wenufoye“, die Flagge der Mapuche, war seit Oktober 2019 auf den Straßen Chiles allgegenwärtig. Sie wurde zum Zeichen der Auflehnung gegen rassistische Diskriminierung, fehlende Rechtsstaatlichkeit und das Erbe des Pinochet-Regimes.
Massenproteste gegen das neoliberale Wirtschaftssystems und Ringen um eine neue Verfassung
So erhalten die Forderungen der indigenen Gemeinschaften Chiles trotz Pandemie-Bedingungen immer mehr an öffentlichem Rückhalt. Die Beteiligung an der Erarbeitung einer neuen Verfassung und die Anerkennung ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und vor allem kulturellen Rechte sind längst überfällig. Auch die bereits seit dem Ende der Diktatur geforderte Festschreibung Chiles als einen plurinationalen Staat wird unterstützt.
Ein erster kleiner Schritt
Auch wenn es nur 17 von 155 Abgeordneten sind, der Proporz-Anteil indigener Vertreter:innen in der anstehenden Verfassungsgebenden Versammlung ist ein erster kleiner Fortschritt. Denn er ist ein Zeichnen, „eine historische Schuld an der indigenen Bevölkerung durch demokratische Mechanismen der Partizipation zu begleichen.“ So der Tenor der mehr als 40 Organisationen in einem offenen Brief an den Kongress in Valparaiso.
* Auf Mapudungun („Sprache der Erde“) nennen die Menschen die Pandemie „Wigka-Kuxan“