Ganz Chile war am Freitag unter dem Ruf „Chile despertó“ („Chile ist aufgewacht“) auf den Straßen. Immer mehr Menschen schließen sich den Demonstrationen an, auch die Gewerkschaften machen mit und rufen zu Streiks auf. Demokratisierung, Menschenrechte und ein umfassender Umbau des Wirtschafts- und Sozialsystems gehören zu den zentralen Forderungen. Gleichzeitig wird der Ruf nach einem Rücktritt des Präsidenten Sebastián Piñera immer lauter.
Text: Jürgen Schübelin
Es war die mit Abstand eindrucksvollste und mit über 1,2 Millionen Menschen gewaltigste Kundgebung seit dem Ende des Pinochet-Regimes Chile. Dabei organisierten sich die Protestierenden ausschließlich über die sozialen Medien – ohne offizielle Reden und Tribünen. Am Freitagabend, 25. Oktober 2019, gingen in praktisch allen Städten in Chile die Menschen gleichzeitig auf die Straße. Ihre Forderungen waren laut und deutlich: Der Rücktritt von Präsident Sebastian Piñera, die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung und vor allem tiefgreifende Reformen am chilenischen Wirtschafts- und Sozialsystem zu fordern.
Das Pulverfass Chile
Die Explosivität der Aufstände ist immens – und ist eigentlich dennoch kaum überraschend. Schließlich entlädt sich hier aktuell eine in Jahrzehnten aufgestaute Wut und Frustration: über niedrige Löhne und Renten, hohe Preise, horrende Ausbildungskosten und Studiengebühren, die oftmals zu lebenslanger Verschuldung führen. Hierin sind die Ursachen für die extremen Unterschiede zwischen Arm und Reich im lateinamerikanischen Staat zu finden. Chile gleicht folglich seit Jahren einem Pulverfass – es brauchte augenscheinlich lediglich den entzündenden Funken.
Und genau den lieferte die Piñera-Administration kürzlich mit der Erhöhung der U-Bahn- und Strompreise in Santiago de Chile. Genau heute vor einer Woche fand die erste Protestwelle ihren ersten Höhepunkt. Doch damit nicht genug. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Demonstrationen gegen die Regierung und führten schnell zu Hunderten von Spontan-Demonstrationen. Der Wunsch nach Veränderungen in Chile ist praktisch mit den Händen greifbar.
„Das Recht, in Frieden zu leben“
Der Massenprotestzug am Freitagabend führte von der Plaza Italia durch die Hauptstraße von Santiago de Chile, zum Präsidentenpalast und Regierungsviertel. Die Demonstranten hielten zwar keine Reden, aber eine Hymne hatten sie sich ausgewählt. Seit Mittwoch vergangener Woche wird sie immer wieder bei den Kundgebungen gesungen: „El Derecho de vivir en Paz“ (…das Recht, in Frieden zu leben…) intonieren die Protestierenden im Chor, unter ihnen auch viele Familien mit Kindern.
Mit dem Lied prangerte der chilenische Dichter und Liedermacher Victor Jara den Vietnam-Krieg an. Zweieinhalb Jahre später, im September 1973 nach dem Pinochet-Putsch, folterten ihn Militärs zu Tode. Im jetzigen Kontext enthält das historische Lied vor allem die Aufforderung, den verhängten Notstand und die mit ihm verbundenen nächtlichen Ausgangssperren aufzuheben und die gegen Demonstranten eingesetzten Soldaten in die Kasernen zurückzuholen.
19 Tote: UN-Menschenrechtskommission reist an
Präsident Piñera kündigte als Reaktion auf die Kundgebungen am Wochenende an, sein gesamtes Kabinett auszuwechseln. Dem Parlament in Valparaíso möchte er ein Paket mit Reformgesetzen vorlegen. Dazu gehört eine Kürzung der selbst im weltweiten Vergleich hohen Diäten von Abgeordneten und Senatoren sowie der Gehälter von Regierungsbeamten. Am Wochenende wurde darüber hinaus erstmals auch die verhängte Ausgangssperre in den meisten Teilen des Landes aufgehoben. Am Montag traf zudem eine Fachgruppe der UN-Menschenrechtskommission ein, um den exzessiven Waffeneinsatz von Polizei und Militärs während der Protesttage sowie die Folter- und Vergewaltigungsvorwürfe auf Polizeiwachen und in informellen Haftzentren zu untersuchen.
Nach vorläufigen Angaben verschiedener chilenischer Menschenrechtsorganisationen forderten die Auseinandersetzungen der zurückliegenden Woche 19 Menschenleben. Zudem gelten mehrere Personen als „verschwunden“, über 1.000 Demonstranten wurden teilweise schwer verletzt. Einige von ihnen leiden unter dem Verlust des Augenlichts, weil mit Gummikugeln und Tränengas-Granaten auf sie geschossen wurde. Hinzu kommen nach Angaben des Chilenischen Instituts für Menschenrechte bislang 3.200 Verhaftungen.