Als „Erfolg für die Wissenschaft“, aber als „Niederlage für die Solidarität“ beschreibt UN-Generalsekretär António Guterres das aktuelle Desaster um die weltweite Verteilung von Impfdosen. Nach und nach werden die lang ersehnten Impfstoffe gegen COVID-19 zugelassen. Doch die Impfdosen sind knapp und deshalb heiß begehrt. Reiche Länder verhandeln einzeln mit den Pharmakonzernen und sichern sich so den Löwenanteil. Viele ärmere Länder gehen dabei leer aus und haben auf absehbare Zeit keine Chance, ihre Bevölkerung flächendeckend zu impfen. Das verschärft die Hunger- und Bildungskrise, die die Pandemie vielerorts ausgelöst hat, und zerstört die Zukunft abertausender Familien. Von einer globalen Impfgerechtigkeit kann keine Rede sein. Dabei wird uns diese ungleiche Verteilung von Impfstoffen irgendwann allen zum Verhängnis!
Von Justina Delling
Ungleiche Verteilung der Impfdosen
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bisher 95 Prozent der Corona-Impfungen in nur zehn Ländern verabreicht. Dazu gehört auch Deutschland. Auf globaler Ebene gibt es einen regelrechten Wettlauf um den Zugriff auf die Impfstoffe. Vor allem ärmere Länder bleiben dabei auf der Strecke. Für Kinder und Jugendliche ist das besonders fatal: Sie laufen nicht nur Gefahr zu erkranken, sondern leiden auch unter den vielfältigen sozialen Folgeerscheinungen der Pandemie. Dazu gehören dauerhafte Schulschließungen, Hunger durch Verdienstausfall der Eltern, ein erhöhter Druck, selbst arbeiten zu müssen, und ein Anstieg der Gewalt durch Spannungen innerhalb der Familie.
Umso besorgniserregender ist, dass wenige reiche Länder, die zusammen gerade einmal 14 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, bereits über die Hälfte aller Corona-Impfdosen bis ins nächste Jahr aufgekauft haben. Für den Rest der Menschheit bedeutet das im schlimmsten Fall, dass 9 von 10 Personen frühestens 2022 gegen Corona geimpft werden können. Eine faire Verteilung sieht anders aus!
Die WHO kritisiert die nationalen Alleingänge und fordert weltweite Solidarität beim Impfen. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus findet dafür klare Worte: „Ich muss unverblümt sagen: Die Welt steht am Rand eines katastrophalen moralischen Versagens.“
Warten auf den Impfstoff
In Kenia sind laut WHO bislang lediglich 50 Impfdosen angekommen, in Südafrika nur etwa 50.000 – und das, obwohl beide Länder an klinischen Tests für die Entwicklung der Impfstoffe mitgewirkt haben. Hinzu kommt, dass vor allem Südafrika mit besonders hohen Infektionszahlen kämpfen muss. Außerdem verbreitet sich dort seit kurzem eine deutlich ansteckendere Virusvariante. Gerade für den afrikanischen Kontinent gilt: Länder mit geringerer Kaufkraft haben es schwer, an Impfstoff für die eigene Bevölkerung zu gelangen.
Um Abhilfe zu schaffen, setzt die WHO auf ihr Covax-Programm – eine internationale Impfinitiative, die den gerechten und weltweit gleichen Zugang zu Impfstoffen gewährleisten soll. Nach Verhandlungen mit den Pharmafirmen sollen in diesem Jahr zwei Milliarden Impfdosen über das Covax-Programm weltweit zur Verfügung stehen. Besonders im Fokus stehen dabei die 92 am stärksten von Armut betroffenen Länder.
Verzweifelte Lage in Afrika
Für den afrikanischen Kontinent sieht Covax im Laufe des Jahres insgesamt 600 Millionen Impfdosen vor. Doch die ersten Lieferungen aus dem WHO-Programm werden dort frühestens im März eintreffen. Die Afrikanische Union hat sich zusätzlich weitere 270 Millionen Impfdosen gesichert. Doch auch hier sind nur erste Teillieferungen in den einzelnen Ländern angekommen. Niemand weiß, wann großflächige COVID-19-Impfungen dort möglich sein werden.
Zugleich braucht es Investitionen in die oft maroden Gesundheitssysteme und in das Gesundheitspersonal. Einige der bereits zugelassenen Impfstoffe müssen bei sehr niedrigen Temperaturen gekühlt werden. Das stellt die afrikanischen Staaten vor große Herausforderungen. In vielen ländlichen Regionen gibt es keine flächendeckende Stromversorgung und auch in großen Städten sind Stromausfälle keine Seltenheit. Um die Kühlkette nicht zu unterbrechen, sind spezielle Kühlschränke notwendig, was wiederum den Strombedarf erhöht. Neben der Beschaffung der Impfdosen ist also auch deren Lagerung und Verteilung ein Problem.
China und Indien liefern
Länder wie Indonesien, die Türkei oder Brasilien setzten bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie auf Impfstoffe von chinesischen Herstellern. Die Wirksamkeit gilt zwar als umstritten, doch sind die chinesischen Impfdosen besser haltbar und kostengünstiger als die der westlichen Pharmakonzerne. Sie sind somit auch für ärmere Länder leichter verfügbar. China etabliert sich zusehends als strategischer Partner für viele Länder und schließt Verträge über große Impfstoff-Mengen. Vor allem seine unmittelbaren Nachbarländer beliefert es mit mehreren Millionen Impfdosen.
Auch in Indien denkt man an benachbarte Länder, die nicht genug Geld haben, um sich Impfdosen bei den europäischen Herstellern zu sichern. Indien hat erklärt, den im eigenen Land produzierten Impfstoff der Pharmafirma AstraZeneca anderen Staaten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Länder wie Bangladesch, Nepal und Myanmar sollen so mehrere tausend Impfdosen erhalten. Indien will außerdem das Impfpersonal in den Partnerländern schulen und auf die Impfungen vorbereiten. All diesen solidarischen Bemühungen zum Trotz ist es noch ein langer Weg bis zu einer gerechten Impfstoffverteilung.
Und wo steht die EU?
Die europäischen Staats- und Regierungschef:innen kamen am 21. Januar zu einem digitalen EU-Gipfel zusammen und sprachen über die Corona-Pandemie. Der weltweite Ansturm auf die vorhandenen Impfkapazitäten ist groß und die EU-Staaten wollen vor allem ihre nationalen Impfkampagnen in Fahrt bringen. Sie ärgern sich über Lieferengpässe einiger Hersteller und konzentrieren sich auf eine reibungslose Verteilung der Impfstoffe in Europa. Das Thema der globalen Verteilungsgerechtigkeit erhält weniger Aufmerksamkeit. Dabei sieht es perspektivisch so aus, als hätte sich die EU mehr Impfstoff gesichert, als sie benötigt.
So jedenfalls äußerte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „In einigen Monaten werden wir in Europa mehr Dosen haben, als wir brauchen können“. Sie forderte die europäischen Staaten auf, Impfstoffe an ärmere Länder weiterzugeben und sich für einen gerechten Zugang zu Impfstoffen einzusetzen. Damit soll die Impfinitiative Covax nicht wie bislang nur finanziell, sondern ganz konkret durch das Bereitstellen von Impfdosen unterstützt werden. Immerhin seien die EU-Mitgliedstaaten mitverantwortlich für die knappen Impfvorräte im Covax-Programm. Mit einer starken Beteiligung an der Covax-Initiative können die EU-Staaten viel zu einer gerechten Impfstoffverteilung auf der ganzen Welt beitragen – und damit auch im eigenen Interesse handeln.
Impfgerechtigkeit – ein Schlüsselelement in der Pandemiebekämpfung
Die global gerechte Verteilung von Impfstoffen kommt nicht nur den ärmeren Ländern zugute. So erklärte Ursula von der Leyen beim EU-Gipfel: „Impfstoffnationalismus riskiert Menschenleben. Nur Impfstoff-Kooperation rettet Leben“. Unausgeglichene Impfungen könnten die gesamte Pandemie verlängern. Wenn sich alle Länder um den vorhandenen Impfstoff streiten und jeder nur an sich denkt, werden sich nur die reichsten Staaten durchsetzen und große Teile ihrer Bevölkerung impfen. Das Virus hat währenddessen in anderen Teilen der Welt freie Bahn. Es kann immer wieder zurückzukommen – vielleicht sogar in mutierter Form. Dann sind vielleicht nicht einmal geimpfte Europäer:innen vor eventuellen Virusmutationen sicher.
Aus diesem Grund betont WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus: „Die oberste Priorität muss sein, einige Menschen in allen Ländern zu impfen, und nicht alle Menschen in einigen Ländern. Dies ist nicht nur ein moralisches Gebot und ein Gebot der öffentlichen Gesundheit. Es ist auch ein wirtschaftliches.“ Was die Welt jetzt braucht, ist ein globales, faires Verteilungskonzept und eine starke WHO, die dieses gemeinsam mit den Ländern durchsetzen kann. Denn allen ist klar: Die internationale Gemeinschaft kann COVID-19 nur gemeinsam besiegen.