Der heutige Besuch des griechischen Außenministers in Berlin macht noch einmal deutlich: Die jüngste Räumung des Vorzeige-Camps Pikpa, in dem unser Partner Lesvos Solidarity Geflüchteten eine würdige Unterbringung bot, ist ein weiterer Tiefpunkt der europäischen Migrationspolitik. „Acht Jahre menschenfreundliche Arbeit, für viele bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit – heute morgen ausradiert“, schreibt uns eine freiwillige Helferin noch am selben Tag entsetzt. „Soll nicht mehr gelten, nicht zählen. Gilt aber trotzdem. Zählt trotzdem!“
Text: Jürgen Schübelin, Fotos: Lesvos Solidarity
Auf diese brutale Operation im Morgengrauen des 30. Oktober ist niemand vorbereitet: Schwarz maskierte Spezialkräfte der griechischen Polizei rücken am vergangenen Freitag in das von uns unterstützte Schutzzentrum Pikpa-Camp in Mythilini auf Lesbos ein. Laut den Schilderungen unseres Partners Lesbos Solidarity riegelt ein Teil der Polizei-Sondereinheiten das Areal am Rand der Inselhauptstadt ab. Mitarbeitende, Psychologen, Anwälte und medizinisches Personal haben so keinen Zutritt mehr zum Lager. Währenddessen holen andere Uniformierte die Bewohner aus den kleinen Häusern und Unterkünften des Camps. Rücksichtslos zwingen sie die geschockten und völlig verängstigen Menschen – darunter 32 Kinder – in die bereitgestellten Busse. Eine Person bricht während der Polizeiaktion unter Stress zusammen und muss ins Krankenhaus gebracht werden.
Großlager erleichtern die Verwaltung, behauptet die griechische Regierung
Seit 2012 bot das Pikpa-Camp, das hauptsächlich durch Ehrenamtliche betreut wurde, mehr als 30.000 besonders gefährdeten Geflüchtete ein würdiges Zuhause auf Zeit. Familien mit kleinen Kindern, Schwangere, Menschen mit Behinderung, Schwertraumatisierte und Opfer von Folter fanden hier Sicherheit. Bis zum vergangenen Freitag. Auslöser der Polizeiaktion war ein Räumungsbefehl von Notis Mitarakis, dem griechischen Minister für Migration und Asyl. Seine Begründung: Es sei administrativ einfacher, Geflüchtete in Großlagern zu versorgen – als in mehreren kleineren Camps.
Pikpa als Gegenentwurf zu „Moria 2.0“
„Das ist völlig inakzeptabel und absurd“, schreibt die Leiterin von Lesvos Solidarity, Efi Latsoudi. „Ein Zufluchtsort wie Pikpa wird gewaltsam geräumt, während gleichzeitig die griechische Regierung und die anderen europäischen Staaten ein menschenverachtendes ‚Moria 2.0‘-Großlager vorantreiben!“.
Wie PRO ASYL am Wochenende vermutete, wollte die griechische Regierung mit ihrem martialischen Polizeigroßeinsatz offenbar Fakten schaffen. Ziel war es demnach, einem etwaigen Eingreifen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zuvorzukommen. Dort hatten die Anwälte mehrerer Kinder im Pikpa Camp gegen eine mögliche Räumung geklagt. Die entsprechende Verfahrensfrist endete am 2. November.
Die Polizeikräfte bringen die Menschen aus dem Pikpa-Camp zunächst in das alte Kara-Tepe-Lager – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Großlager, das die griechischen Behörden nach dem Brand in Moria aus dem Boden stampfen. Allerdings droht auch Alt-Kara-Tepe zum Jahresende die Räumung. Nun macht sich die Angst breit, am Ende doch in der neuen Zeltlagerstadt mit ihren katastrophalen Lebensbedingungen zu landen.
Breite internationale Unterstützung
Für seine Arbeit erntete das Team um Efi Latsoudi von Lesvos Solidarity breite Unterstützung. Das zeigt unter anderem die Verleihung des humanitären Nansen Refugee Award 2016 durch das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für den Schutz von Flüchtlingen (UNHCR). In den letzten Wochen wandte sich eine Vielzahl von Petitionen und Appellen aus der ganzen Welt gegen die Räumungsandrohung von Minister Notis Mitarakis. Auch die Bischöfinnen und Bischöfe der evangelischen Landeskirchen von Kurhessen-Waldeck, Westfalen, Hessen und Nassau sowie der Evangelischen Kirche im Rheinland meldeten sich zu Wort. In eindringlichen Botschaften an Mitarakis, seinen Kabinetts-Kollegen und griechischen Minister für Arbeit und Soziales Yiannis Vroutsis sowie an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) plädierten sie dafür, die Räumung abzuwenden.
Ein Armutszeugnis für die EU
„Was für ein Armutszeugnis für die Europäische Union – und was für eine Botschaft!“, sagt Ute Gniewoß über das Vorgehen der griechischen Regierung. Sie ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche Berlin–Brandenburg–schlesische Oberlausitz und eine der freiwilligen Mitarbeiterinnen im ehemaligen Geflüchteten-Camp Pikpa. In den vergangenen Jahren reiste sie regelmäßig auf die Insel Lesbos und leistete Hilfe im Projekt.
Wie sie sind auch die anderen Freiwilligen schockiert über das menschenverachtende Vorgehen der griechischen Regierung und die Passivität der EU. Carsten Montag, Vorstandsmitglied der Kindernothilfe, stellt entsetzt fest: „Wer militärisch organisierte Spezialeinheiten gegen Kinder und Frauen in Marsch setzt, zeigt, wo er steht: ganz sicher nicht auf der Seite von Demokratie und Menschenrechten“.