Chile 10 Jahre nach dem Erdbeben: Ein Land kommt nicht zur Ruhe

Vor zehn Jahren, in den frühen Morgenstunden des 27. Februars 2010, und zwar exakt von 03:34 bis 03:37 Uhr – drei Minuten lang – bebte im Süden Chiles die Erde und das mit extremer Gewalt. Vor allem in ländlichen Gebieten sind die Spuren der damaligen Verwüstungen immer noch zu sehen. In diesem Jahr wird der Gedenktag inmitten einer ganz anderen Krise begangen… Von Jürgen Schübelin

Vor zehn Jahren, in den frühen Morgenstunden des 27. Februars 2010, und zwar exakt von 03:34 bis 03:37 Uhr – drei Minuten lang – bebte im Süden Chiles die Erde und das mit extremer Gewalt. Mit einer Magnitude von 8,8 auf der Richterskala war das Erdbeben von Concepción weltweit das fünfschwerste, das seit 1900 jemals registriert wurde. 521 Menschen starben unter den Trümmern einstürzender Gebäude oder in Folge des Tsunamis, der durch das Beben ausgelöst worden war. Entlang der Pazifikküste riss er Hunderte von Häusern mit sich. Viele Menschen, die nicht rechtzeitig gewarnt worden waren, hatten keine Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Unter den Opfern befanden sich auch zwei Kinder aus dem Kindernothilfe-Patenschaftsprogramm.

Die Katastrophe hatte eines der Kerngebiete des Kindernothilfe-Engagements getroffen: Concepción, Talcahuano, San Pedro de la Paz, Coronel und Lota, alles Anrainer-Kommunen rund um den Golf von Arauco in der Bio-Bio-Region, 500 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. Mehrere der geförderten Kinderzentren und die – auch mit Unterstützung von Kindernothilfe-Spenderinnen und Spendern in den Jahren zuvor geschaffene – Projektinfrastruktur hielten den extrem starken Erschütterungen nicht stand.

schwere Straßenschäden nach dem Erdbeben in Chile
Einfach weggerutscht: Überall in Chile gab es schwere Straßenschäden
Tiefe Zäsur

Auf das Beben folgten für die Menschen im Katastrophengebiet entsetzliche Wochen voller Angst, Unsicherheit und Versorgungsproblemen. Als Reaktion auf Plünderungen verhängte die chilenische Regierung das Kriegsrecht und nächtliche Ausgangssperren. Die Kindernothilfe-Partnerorganisation ANIDE reagierte unmittelbar, besuchte sämtliche betroffenen Projektteams und organisierte mit Unterstützung aus Duisburg ein engagiertes Soforthilfe-Programm.

Zur Erinnerung an diesen Tag, der in Chile bis heute eine tiefe Zäsur zwischen einem Vorher und einem Nachher markiert, dokumentieren wir hier noch einmal zwei Berichte. Sie beschäftigen sich mit den Erfahrungen in den Tagen unmittelbar nach der Katastrophe und danach mit den Anstrengungen rund um den Wiederaufbau und der Instandsetzung von beschädigten Projekten:

Nach dem Erdbeben in Chile: Stress und Gewalt nehmen Kinder jeden Schutz

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Fast 600.000 Euro brachten Kindernothilfe-Spenderinnen und Spender aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Luxemburg in den Wochen und Monaten nach dem Erdbeben auf. Auf diese Weise konnte die psychosoziale Trauma-Arbeit mit den Kindern aus den betroffenen Projekten und ihren Familien sowie Wiederaufbau- und Reparaturvorhaben finanziert werden

Mädchen malt mit bunten Stiften
Dank zahlreicher Spenderinnen und Spender konnten Trauma-Therapien finanziert werden
Ein Jahr voller Katastrophen

Die Katastrophe in Chile ereignete sich nur sechs Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti – und es sollte in diesem bewegten Jahr 2010 leider auch nicht die letzte in einem Kindernothilfe-Partnerland bleiben: Im Juli und August 2010 kam es im nordwestlichen Pakistan in Folge extrem starken Monsunregens zu verheerenden Überschwemmungen mit mehreren Tausend Toten.

Zehn Jahre nach dem „Terremoto y Tsunami del 2010“, wie dieses Beben vom 27. Februar 2010 in Chile genannt wird, sind die Spuren der damaligen Verwüstungen vor allem in ländlichen Gebieten, aber auch in kleineren Städten noch immer an Brachflächen und Gebäuderuinen zu erkennen.

Demonstrationen für eine neue Verfassung

Aber in dem Andenland entlang der Pazifikküste wird dieser Jahrestag inmitten einer ganz anderen Krise begangen, die die Aufmerksamkeit der Menschen völlig absorbiert. Seit Mitte Oktober halten die erbitterten Proteste gegen die Regierung von Präsident Sebastian Piñera an. Widerstand regt sich auch gegen die autoritäre Verfassung mit ihrer neoliberalen Wirtschaftsordnung, die extremste soziale Ungerechtigkeiten verursacht – sie stammt noch aus den Zeiten des Militärregimes unter Augusto Pinochet. Mindestens 31 Menschen sind seit Beginn der Auseinandersetzungen im Oktober 2019 ums Leben gekommen, über 3.400 wurden schwer verletzt. Fast 9.000 Personen wurden von Polizei und Militär festgenommen. Die UN-Menschenrechtskommission spricht von „exzessiver, nicht zu rechtfertigender systematischer Gewalt“ seitens der Polizeispezialkräfte gegen Protestierende.

Die kommenden Wochen in Chile werden in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung sein: Rund um den Internationalen Frauentag am 8. März haben soziale Bewegungen erneut Großdemonstrationen und Aktionen des zivilen Widerstands angekündigt. Auch zum Jahrestag zur Erinnerung an die Opfer des Pinochet Regimes werden Proteste erwartet, während die Vorbereitungen für die Volksabstimmung über eine Verfassungsreform bereits auf vollen Touren angelaufen sind – sie soll am 26. April stattfinden. Chile bebt weiter…

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Autor: TLo

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