Venezuela: eine humanitäre Katastrophe

 „Slow-motion catastrophe“ – Katastrophe in Zeitlupe – hat der Guardian die verhängnisvolle Entwicklung in Venezuela genannt. Längst ist aus der politischen eine umfassende humanitäre Krise geworden. Die Menschen hungern und verlassen in Scharen das Land, die Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen, Gewaltverbrechen nehmen rasant zu. Unter der Notsituation leiden vor allem Kinder. Um sie wirkungsvoll zu unterstützen, lotet die Kindernothilfe derzeit Möglichkeiten für Hilfsmaßnahmen in Kooperation mit dem Medikamentenhilfswerk action medeor aus. Pater José María Gimeno, Beauftragter für Humanitäre Hilfe und Sozialprojekte der Erzdiözese Barquisimeto, berichtet bei einem Besuch in der Kindernothilfe-Geschäftsstelle in Duisburg von der verzweifelten Lage in Venezuela.

Text:  Jürgen Schübelin

Derzeit ist Venezuela fast täglich in den Medien. Meist beschränken sich die Nachrichten auf den politischen Machtkampf zwischen Staatspräsident Nicolás Maduro und Juan Gaidó. Der Präsident der Nationalversammlung von Venezuela hat sich selbst zum verfassungsmäßigen Interimsstaatsoberhaupt erklärt und will Maduro aus dem Amt drängen. Die Notlage der Menschen spielt in der Berichterstattung eine untergeordnete Rolle. Mit diesen Menschen und ihrem Überlebenskampf hat Pater José María Gimeno jeden Tag zu tun.

67 Prozent der Kinder sind unterernährt

Die Unterversorgung ist lebensbedrohlich, es fehlt vor allem an Lebensmitteln und Medikamenten. 67 Prozent der Kinder in Venezuela sind unterernährt. Das bedeutet: Selbst wenn sie ab sofort regelmäßig ausreichend zu essen hätten, trügen sie dennoch zum Teil massive bleibende Schäden davon.

Von ausreichender Ernährung kann jedoch nicht die Rede sein: Während der Schwarzmarkt blüht, können sich die meisten Menschen wegen des massiven Währungsverfalls nicht einmal mehr Reis oder Eier leisten. Obendrein sorgt die Korruption bis in die obersten politischen und militärischen Ränge dafür, dass die Lebensmittel, die es gibt, nicht die Bedürftigen erreichen.

Zugleich greifen Krankheiten um sich, weil sauberes Trinkwasser Mangelware ist. Medikamente gibt es nicht oder sie sind unerschwinglich teuer. So kostet eine Antibiotikum-Tablette umgerechnet einen US-Dollar, der durchschnittliche Monatslohn liegt jedoch nur bei 80 Cent – eine Folge der galoppierenden Inflation, die schon jetzt sagenhafte 1,3 Millionen Prozent beträgt und noch weiter steigen soll.

Die gegenseitige Hilfsbereitschaft in Venezuela ist groß
Essensausgabe in einem Comedor (Suppenküche) (Quelle: Jürgen Schübelin)
Essensausgabe in einem Comedor (Suppenküche) (Quelle: Jürgen Schübelin)

Nirgendwo in Lateinamerika spielen die Kirchen eine so zentrale Rolle wie derzeit in Venezuela. Vor den Suppenküchen der Gemeinden bilden sich jeden Tag lange Schlangen. Auch die Pfarreien der Erzdiözese, in der Pater Gimeno tätig ist, kochen täglich für rund 150 Personen. Die Betroffenen bekommen die Mahlzeiten sogar nach Hause gebraucht.

In einer Suppenküche (Quelle: Jürgen Schübelin)
In einer Suppenküche (Quelle: Jürgen Schübelin)

Warum? „Wir wollen sicherstellen, dass das Essen auch wirklich bei denen ankommt, die es am nötigsten haben“, sagt Pater Gimeno. Die entsprechenden Familien hat die Diözese vorher sorgsam ausgesucht. Die Zubereitung der Speisen übernimmt ein Koch, der den täglichen Einsatz gleichzeitig zur Ausbildung seiner Kochschüler nutzt. Ein 60-köpfiges Freiwilligenteam bringt das Essen in die einzelnen Haushalte.

Oft bleiben die Freiwilligen noch eine Weile in den Familien und passen auf, dass auch wirklich jeder zu essen bekommt. „Es ist nämlich so, dass die Alten manchmal auf ihren Anteil verzichten – zugunsten der Kinder“, weiß Pater Gimeno. „Die Menge reicht aber für alle aus. Deshalb ist es uns auch so wichtig, die Bedürftigen vorher genau auszuwählen.“

Die Kosten für dieses Ernährungsprojekt belaufen sich auf etwa 1.000 US-Dollar pro Monat. Es gebe immer noch Unternehmen in Venezuela, die dafür spendeten. Den Rest der Gelder erhalte die Diözese von engagierten Bürgerinitiativen in Spanien.

Eine Katastrophe für das Land
Ein alter Mann füttert ein kleines Kind auf seinem Schoß. (Quelle: Jürgen Schübelin)
Alte Menschen und Kinder leiden am meisten unter der Krise (Quelle: Jürgen Schübelin)

Über 200.000 Venezolaner sind 2017 allein nach Spanien ausgewandert. Die Hauptlast der Massenmigration tragen jedoch die Nachbarländer und unter diesen besonders Kolumbien, das 2017 rund 600.000 Flüchtlinge aufnahm. Für 2019 rechnet die Weltflüchtlichsorganisation UNHCR mit einer Vervielfachung der Zahlen, wenn sich an der Notsituation in Venezuela nichts ändert.

Die, die gehen, sind meistens die Jungen und gut Ausgebildeten. Sie haben genug Energie und Hoffnung für einen Neuanfang. Zurück bleiben die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft – Kinder und alte Menschen. Für Venezuela ist das eine Katastrophe: Wenn die Krise überwunden ist, fehlen gerade jene, die das Land wieder aufbauen könnten.

Die Menschen fliehen aber nicht nur vor Hunger und Krankheiten, sondern auch vor der zunehmenden Gewalt. Pater Gimeno erzählt von vier Morden in unmittelbarer Umgebung seiner Pfarrei, alle in jüngster Zeit. Die Sicherheitskräfte machten regelrecht Jagd auf Menschen, berichtet er.

Dabei besonders gefürchtet sind die Colectivos: paramilitärische Einheiten auf Motorrädern, die als Gegengewicht zur Armee gegründet wurden, um „die Revolution zu verteidigen“. Darüber hinaus gibt es noch weitere Milizen im Land. Die unübersehbare Menge an Waffen in Privatbesitz ist ein gefährliches Pulverfass, das jederzeit explodieren kann.

Hilfsmaßnahmen sind in Planung

Die Kindernothilfe sieht besonders mit Blick auf die Gesundheitssituation und die Gefährdung von Kindern dringenden Handlungsbedarf. Große Bedeutung kommt dabei der Beschaffung und Lieferung von Medikamenten an Kirchengemeinden und andere kirchliche Institutionen zu. Gemeinsam mit ökumenischen Partnern und im Verbund mit action medeor sollen sichere Kanäle für entsprechende humanitäre Hilfsmaßnahmen ausgebaut werden.

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Autor: Kindernothilfe e.V.

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