Fast 15 Millionen wahlberechtigte Chileninnen und Chilenen stehen an diesem Sonntag vor der wohl wichtigsten Entscheidung seit dem legendären Plebiszit vom 5. Oktober 1988. Damals ging es um die Frage, ob Diktator Pinochet weitere neun Jahre uneingeschränkt herrschen kann – oder stattdessen ein demokratischer Übergangsprozess eingeleitet wird. Zur Überraschung des Regimes gewann das „No“. Die Militärs mussten abtreten. Jetzt – 32 Jahre später – steht die Entscheidung in Chile darüber an, die von dem Pinochet-Regime 1980 oktroyierte Verfassung mit ihren starren, autoritären Korsettstangen – kombiniert mit einem ultra-neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell – endlich überwinden zu können.
Text und Fotos: Jürgen Schübelin
Abgestimmt wird am Sonntag über zwei Fragen: Für oder gegen eine neue Verfassung? Sowie darüber, wer diese Verfassung ausarbeiten soll? Zur Option stehen zwei Modelle. Option A, ein gemischtes Gremium, das sich zur Hälfte aus Parlamentsabgeordneten und zusätzlich zu wählenden Delegierten zusammensetzt. Option B, eine ausschließlich für diese Aufgabe neu zu wählende verfassungsgebende Versammlung mit breiter Beteiligung aus der Zivilgesellschaft.
„Hoffentlich gelingt es uns endlich, ein demokratisches Chile zu schaffen“
„Dass dieser Prozess jetzt endlich überhaupt in Gang kommt, erfüllt uns mit Enthusiasmus“, sagt José Horacio Wood, der Direktor der Kindernothilfe-Partnerorganisation Fundación ANIDE in Santiago de Chile. „Worauf es jetzt ankommt“, so José Horacio, „ist, die Menschen zu mobilisieren, am Sonntag zur Abstimmung zu gehen – und so einen klaren Unterschied zu den Präsidentschaftswahlen vom November 2017, als sich gerade einmal 46,7 Prozent der Stimmberechtigten beteiligten, zu markieren. Ich hoffe inständig, dass wir das schaffen!“ Seine Kollegin Claudia Vera, Programm- und Projektkoordinatorin im ANIDE-Team, fügt hinzu: „Die Menschen hier in den Vierteln sind voller Zuversicht! Hoffentlich gelingt es uns endlich, ein demokratisches Chile zu schaffen, um das wir seit Jahrzehnten kämpfen. Ein Land mit mehr Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und einem funktionierenden Rechtsstaat.“
Die Corona-Pandemie verzögerte den Prozess
Es war die chilenische Zivilgesellschaft und all diejenigen, die sich seit einem Jahr an den Massenprotesten im ganzen Land – genannt „Estallido Social“ – beteiligten, die der rechtskonservativen Regierung des Multimilliardärs Sebastian Piñera dieses Verfassungsreferendum abrangen. Ursprünglich hätte die Volksabstimmung bereit am 26. April stattfinden sollen. Wegen der Corona-Pandemie entschied die Regierung jedoch, das Plebiszit auf den 25. Oktober zu verschieben.
Ein Ausbruch einer jahrelang aufgestauten Wut
Auslöser des „Estallido Social“ waren am 18. Oktober 2019 die Erhöhung der Ticketpreise für die Metro von Santiago gewesen, kombiniert mit empfindlichen Preissteigerungen bei den Stromrechnungen. Sehr schnell richteten sich die Proteste im Oktober 2019 gegen die – an den hohen Lebenshaltungskosten gemessen – viel zu niedrigen Löhne im Land, gegen die hohen Kosten für Bildung und Gesundheit und die seit dem Ende des Militärregimes 1990 kontinuierlich weiter gewachsene Kluft zwischen Arm und Reich. Auf ihrem Höhepunkt beteiligten sich mehr als eine Million Menschen an Protestkundgebungen. Damit machten sie die „Estallido Social“-Demonstrationen zu größten in der Geschichte des lateinamerikanischen Landes.
Unsere Partnerorganisationen in Chile kritisieren die Gewalt scharf
Neben der Ablehnung des neoliberalen Wirtschaftssystems ging es dabei von Anfang an um die Forderung nach einer demokratischen Verfassung. Diese sollte das vom Pinochet-Regime in den achtziger Jahren oktroyierte Grundgesetz ersetzten. 36 Menschen verloren während der zurückliegenden zwölf Monate bei den immer brutaler geführten Auseinandersetzungen zwischen Spezialkräften der Polizei und Demonstrierenden das Leben. 11.600 Personen wurden – zum Teil sehr schwer – verletzt. Menschenrechtsorganisationen sprechen von über 25.000 Verhaftungen seit dem Beginn der Protestwelle. Die exzessive Brutalität der Polizei, immer wieder gerade auch gegen Kinder und Jugendliche, beschäftigte sogar die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen. Die Kindernothilfe-Partnerorganisationen in Chile meldeten sich – gemeinsam mit Kinderrechts-Netzwerken – lautstark öffentlich zu Wort – und prangerten Repression und Polizeiwillkür an.
Die Protagonistinnen und Protagonisten könnten nicht unterschiedlicher sein
Die zurückliegenden zwölf Monate in Chile – mit all ihrer Dramatik und politischen Bedeutung weit über das südamerikanische Land hinaus – machten aber auch eindrucksvoll deutlich, welche Vitalität, Kreativität und Ausdauer Nachbarschaftsorganisationen, Frauenrechtsinitiativen, Berufsverbände, Indigenen-Bündnisse – und Initiativen von Schülern und Studierenden entwickelten, um diesen Prozess voranzutreiben. Eine ganz wichtige Rolle dabei spielten Künstlerinnen und Künstler. Diese reflektierten und dokumentierten den „Estallido Social“ mit Theater und Musik, in literarischen Texten, mit Bildern – aber auch eindrucksvollen Filmen. Einer dieser Dokumentarfilme, an dem 24 Chileninnen und Chilenen im Alter zwischen 16 und 73 Jahre mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven und Visionen mitwirkten, wurde am 18. Oktober in Santiago online uraufgeführt. Bereits der Trailer dieses Films ist sehenswert. Wir teilen ihn hier, obwohl es noch keine untertitelte Version gibt, weil die ausgewählten Bilder und Szenen einfach für sich sprechen.