Draußen wird geschossen. Drinnen liegen die Vorschulkinder auf dem Boden und singen „Häschen hau ab“: Im Armenviertel von Chiles Hauptstadt Santiago de Chile spielen sich dramatische Szenen vor dem Kindernothilfe-Partnerprojekt „La Victoria“ ab. Nur durch die Geistesgegenwart und den Mut der Betreuerinnen kommen die Mädchen und Jungen unbeschadet davon. Und die Kindertagesstätte verdient einmal mehr ihrem Beinamen „Ort der Zuflucht und der Hoffnung“.
Von Jürgen Schübelin
Ein Kinderlied gegen Kinderpanik
In unmittelbarer Nähe des Projektes „Nuestra Señora de la Victoria“ kommt es an einem Donnerstag Morgen im Mai zu einem dramatischen Zwischenfall. Bei einem heftigen Schußwechsel zwischen zwei Gangs erleidet ein Jugendlicher schwere Verletzungen. Wenig später verstirbt er im örtlichen Gesundheitsposten. Der Vorschulbereich des Projektes ist zu dieser Zeit voller Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Mutig und geistesgegenwärtig fordern die Erzieherinnen die Kinder auf, sich flach auf den Boden zu legen. Gemeinsam beginnen sie mit den verängstigten Mädchen und Jungen das Kinderlied „Conejito arráncate“ (Häschen hau’ ab) zu singen. So können sie ihnen Angst und Panik angesichts der Schüsse draußen auf der Straße nehmen. Als alles wieder ruhig ist, gelangen die Kinder über den Hinterausgang unversehrt aus dem Projektgebäude.
Bandenterror verschont selbst Vorschulkinder nicht
Die Erzieherinnen und das Projektteam um Valentina Campos üben eine derartige Notfallsituation immer wieder mit den Kindern. Um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Denn schon seit geraumer Zeit verschärft sich die Situation in La Victoria zusehends. Mit nächtlichen Schußwechseln kämpfen kriminelle Banden untereinander um die Vorherrschaft im historischen Santiagoner Armenviertel. Sicher fühlt sich schon lange keiner mehr. Genau deshalb wurden auch die Sicherheitsvorkehrungen in der Kindertagesstätte verstärkt. So kann die Arbeit im Zentrum trotzdem weitergehen. Und die Mädchen und Jungen haben nach wie vor einen Ort der Zuflucht und der Hoffnung, an dem sie jeden Tag gut betreut werden.
Stadtteil- und Elterninitiativen gegen Ganggewalt
Seit langem fordert das La Victoria-Team von der Polizei, die Narco-Gangs im Viertel endlich zu entwaffnen. Mittlerweile erhalten sie auch tatkräftige Unterstützung von Eltern und Engagierten aus Stadtteil-Initiativen. Sie organisieren Protestkundgebungen gegen die Gewalt der Drogenbanden und appellieren für Frieden in La Victoria. Doch die immer verzweifelteren Versuche, sich den schwer bewaffneten Narco-Gangs als Zivilgesellschaft entgegen zu stellen, sind bis jetzt erfolglos geblieben. Die Jugendlichen posen nach wie vor martialisch mit ihren Pistolen und Schnellfeuergewehren im Netz.
Kinder schützen und stärken
Wie in La Victoria verschlechtert sich die Sicherheitssituation in vielen Armenvierteln Santiagos de Chile. Auch in einem anderen Kindernothilfe-Partnerprojekt, im Centro Comunitario „Bélen El Cobre“ im Südosten von Santiago, war es vor wenigen Monaten zu einem derartigen Zwischenfall gekommen. Drei Jugendliche wurden auf offener Straße erschossen, weil sie offenbar einer anderen Narco-Gang in die Quere gekommen waren. Alle Drei hatten sich bis noch vor wenigen Jahren im Projekt „El Cobre“ engagiert. Diese dramatischen Ereignisse machen die Mammut-Aufgabe deutlich, vor der Organisationen, Eltern, Nachbarn, aber auch Kinder und Jugendliche stehen. Nur mit viel Engagement, Kreativität und Mut können sie gegen die Gewalt selbst ankämpfen. Und müssen dabei gelichzeitig versuchen, das Selbstbewußtsein, die Wahrnehmung von Gefahrensituationen und die Selbstschutzfähigkeiten der Kinder zu stärken.