Das Jahr 2021 wurde zum internationalen Jahr gegen Kinderarbeit ausgerufen. In Deutschland haben viele Politiker:innen, Organisationen und Verbände dieses Thema aufgegriffen. Aber was sagen die Betroffenen selbst, die arbeitenden Kinder weltweit? Unsere Kindernothilfe-Kinderrechtsexpertin Lea Kulakow berichtet uns von durchgeführten Kinderbefragungen und gegründeten Kinder-Komitees. Und sie stellt uns die Ergebnisse der „Time to Talk!“-Kampagne und die Forderungen der arbeitenden Kinder vor:
Der Einsatz der Kindernothilfe gegen Kinderarbeit
Die Kindernothilfe wurde 1959 gegründet, um mit Spendengeldern Kinder im Globalen Süden zu unterstützen. Ausgehend von Kinderpatenschaften in Indien entwickelten sich verschiedenste Projekte weltweit. Seit wann setzt sich die Kindernothilfe aktiv gegen Kinderarbeit ein?
Lea Kulakow: Eigentlich von Anfang an. Schon die ersten Patenschaften in Indien sollten Kinder vor Armut schützen und ihnen Bildung ermöglichen. Das sind wichtige Faktoren, um Kinderarbeit vorzubeugen. Armut und fehlendes Einkommen sind noch immer die häufigsten strukturellen Ursachen von Kinderarbeit. Deshalb setzt die Kindernothilfe bis heute auf diese Präventionsarbeit. Im Jahr 1998 gab es dann die „Global March“-Initiative. Dabei lag der Fokus auf dem Recht auf Schutz vor ausbeuterischer Kinderarbeit. Mittlerweile unterstützen wir weltweit rund 80 Projekte, die sich mit Kinderarbeit beschäftigen. Und auch in der Advocacy-Arbeit ist das Thema Kinderarbeit eines unserer vier Kernthemen.

Unsere Kampagne zur Kinderbeteiligung „Time to Talk!“
Kinderarbeit ist ein komplexes Problem, das kontext-spezifische Lösungen benötigt. Arbeitende Kinder kennen dabei ihre eigene Situation am besten. Sie sollten daher unbedingt bei Gesprächen rund um Kinderarbeit mitreden. Aus diesem Grund haben die Kindernothilfe und terre des hommes die Kampagne „Time to Talk!“ ins Leben gerufen. Wie kam es zu diesem Projekt?
Lea Kulakow: 2013 war die Kindernothilfe an der „Globalen Konferenz zur nachhaltigen Abschaffung von Kinderarbeit“ in Brasilien beteiligt. Die Konferenz wird alle vier Jahre von der Internationalen Arbeitsorganisation ausgerichtet. Damals zeigte sich, dass sich fast alle Staaten für dieses Thema interessieren und etwas dagegen tun wollen. Vertreter:innen von Regierungen und Ministerien diskutierten Lösungsansätze für ausbeuterische Kinderarbeit. Arbeitende Kinder und Jugendliche selbst kamen aber nicht zu Wort. Dabei haben sie nach Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention ein Recht darauf, bei allen sie betreffenden Themen und Belangen mitzureden. Um dieses Recht auf Partizipation arbeitender Kinder und Jugendlicher zu stärken, wurde das Projekt „Time to Talk!“ ins Leben gerufen.

Kinder berichten von ihren Erfahrungen und Bedürfnissen
„Time to Talk!“ möchte die Sicht der Kinder auf Kinderarbeit abbilden. Mädchen und Jungen sollten dabei gezielt von ihren alltäglichen Erfahrungen und ihren Bedürfnissen berichten. Weltweit erzählten uns also arbeitende Kinder von ihren Herausforderungen und ihren Wünschen und Träumen. Wie lief diese Befragung ab?
Lea Kulakow: An der Befragung haben rund 1.800 Kinder aus weltweit 36 Ländern teilgenommen. Im Vorfeld wurden dafür kinderfreundliche Befragungsmethoden entwickelt, damit es den Kindern und Jugendlichen leichter fällt, über ihre Erfahrungen und ihre Arbeit zu sprechen. Diese Methoden wurden zunächst gemeinsam mit beratenden Kinder-Komitees ausprobiert und verbessert, bis alle damit einverstanden waren. Dann haben über 50 lokal verankerte Partnerorganisationen die Befragungen durchgeführt. Sie haben mit den Kindern über ihre Arbeit sowie über Herausforderungen, Motivationen und Verbesserungsvorschläge gesprochen. Danach wurden die Ergebnisse analysiert und in einem großen globalen Bericht veröffentlicht.
Die Kinder-Komitees werden aktiv
Im Rahmen von „Time to Talk!“ wurden in 12 Ländern beratende Kinder-Komitees gegründet. Die darin beteiligten Kinder hatten die Möglichkeit, die Befragung und die Datenanalyse aktiv mitzugestalten. Welche Rolle spielen diese Kinder-Komitees heute?
Lea Kulakow: Die Kinder-Komitees haben sich weiterhin getroffen und die Ergebnisse der globalen Befragung diskutiert und geprüft. Auf Grundlage der Empfehlungen und Botschaften der 1.800 befragten Kinder und Jugendlichen haben sie eigene Aktionen veranstaltet. Dazu gehören Theateraufführungen, Demonstrationen oder Gespräche mit politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger:innen. Weitere Aktionen waren Festivals, Radio-Sendungen, Fernsehauftritte und Poster-Aktionen. Die Kinder-Komitees haben dabei selbst entschieden, wen sie wie und mit welcher Botschaft adressieren möchten. Die Aktionen unterschieden sich je nach Kontext, politischer Situation und Ort des Kinder-Komitees. Unsere lokalen Partnerorganisationen haben die Kinder-Komitees beim Planen und Umsetzen der Aktionen unterstützt. Gemeinsam haben sie auch Risiken und Erwartungen besprochen.

Die Ergebnisse von „Time to Talk!“
Die Befragung im Rahmen von „Time to Talk!“ bot arbeitenden Kindern aus verschiedenen Kontexten einen neutralen Raum, um ihre Perspektiven einzubringen. Das Interesse an der Kampagne war überwältigend. Was sind die zentralen Ergebnisse der Befragung?
Lea Kulakow: Die Ergebnisse und Forderungen der Kinder und Jugendlichen sind so divers und komplex wie die individuellen Lebensrealitäten der Kinder selbst. Spannend ist, dass es trotz der großen Distanzen und regionalen Unterschiede oft auf Gemeinsamkeiten und ähnliche Herausforderungen hinausläuft. In einer Analyse der Kernbotschaften der Kinder-Komitees haben sich unabhängig von der Weltregion fünf wichtige Forderungen herauskristallisiert:
- Bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für Kinder und auch für Erwachsene
- Ein vereinfachter Zugang zu Bildung
- Mehr Schutz vor Ausbeutung und Diskriminierung
- Eine wirksamere Armutsbekämpfung
- Mehr Partizipationsmöglichkeiten bei wichtigen Entscheidungen, die Kinderarbeit betreffen

Die Forderungen der arbeitenden Kinder ernst nehmen
Mit diesen Forderungen bringen arbeitende Kinder also ihre Sicht auf das Thema Kinderarbeit zum Ausdruck. Nun ist es die Aufgabe der weltweiten Politik, die Perspektiven der Kinder ernst zu nehmen. Wer sollte sich unbedingt genauer mit den Ergebnissen der Kampagne und den Forderungen der Kinder auseinandersetzen?
Lea Kulakow: Wir alle. Kinderarbeit ist ein politisches, aber auch gesamtgesellschaftliches Thema. Natürlich trägt die Politik die Hauptverantwortung und muss entsprechende Gesetze formulieren und umsetzen. Aber oft ist Kinderarbeit auch in der Kultur und in Traditionen verankert und wird nicht als problematisch angesehen. Den Familien ist oft nicht klar, wie wichtig Bildung für gute Zukunftsperspektiven ist. Viele Kinder müssen sich daher zwischen Arbeit und Bildung entscheiden – oder stehen vor der großen Herausforderung, beides unter einen Hut zu bringen. Deshalb ist nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft gefragt. Vor allem Menschen im unmittelbaren Umfeld der Kinder, zum Beispiel Eltern, Lehrkräfte und Arbeitgeber:innen. Sie alle müssen die Gefahren und Risiken von Kinderarbeit erkennen und sich für die Rechte der arbeitenden Kinder einsetzen.
Auf „Time to Talk!“ folgt „Dialogue Works“
Seit Oktober 2020 wird die erfolgreiche Idee von „Time to Talk!“ durch die Kampagne „Dialogue Works“ fortgeführt. Sie basiert auf den Ergebnissen und Empfehlungen des Vorgängerprojekts „Time to Talk!“ und knüpft an die Erfolge und Lernerfahrungen an. Welchen Ansatz verfolgt „Dialogue Works“ und wo steht das Projekt heute?

Lea Kulakow: Bei Dialogue Works wird die Arbeit der Kinder-Komitees weitergeführt. Wir haben festgestellt, dass die Komitee-Struktur den Kindern und Jugendlichen einen wichtigen Raum gibt, sich über ihre alltäglichen Probleme und Herausforderungen auszutauschen. Zugleich können sie sich gegenseitig Rat geben und sich unterstützen. Mittlerweile haben wir weltweit über 30 Kinder-Komitees gegründet, die sich regelmäßig treffen und sich austauschen. Die politische Teilhabe spielt dabei eine zentrale Rolle, denn: Diese Kinder möchten mitreden! Sie haben eigene Meinungen und Perspektiven und möchten gehört werden. Dafür planen sie Advocacy-Events mit politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger:innen. Mit ihnen sprechen sie dann über ihre Situation und ihre Forderungen.
Kinder-Komitees stärken arbeitende Kinder
„Dialogue Works“ soll Kindern mehr Raum geben, um sich besser und institutionalisierter bei lokalen und globalen Diskussionen zu beteiligen. Was ist das Ziel der Kampagne und welche Auswirkungen hat es auf die beteiligten Kinder?
Lea Kulakow: Das Ziel von den Gesprächen rund um „Dialogue Works“ ist, die Situation der arbeitenden Kinder und Jugendlichen konkret zu verbessern. Gleichzeitig steigert die Zusammenarbeit in den Kinder-Komitees aber auch das Selbstbewusstsein und die Kommunikationsfähigkeit der Kinder. Sie wissen jetzt viel mehr über Kinderrechte und politische Prozesse. Übrigens ist es mindestens genauso wichtig, dass Erwachsene lernen, Kindern und Jugendlichen richtig zuzuhören. Sie müssen bereit sein, ein Stück Verantwortung abzugeben. Auch daran arbeiten wir in den nächsten Jahren intensiv! Zum Beispiel auf der nächsten Weltkonferenz zu Kinderarbeit im Mai 2022. Hier werden die Stimmen der arbeitenden Kinder und Jugendlichen hoffentlich endlich gehört!