Nie Zeit, Kind zu sein. Keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen. Kaum Aussicht, der Armut zu entkommen. Ausbeuterische Kinderarbeit ist ein ernstes Problem. Weltweit. Täglich. Die Coronapandemie hat die Situation für Kinderarbeiter:innen weiter verschärft. Diese Entwicklung verfolgen die Kindernothilfe-CEOs in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Sorge. Im Interview sprechen Katrin Weidemann (D), Gottfried Mernyi (Ö) und Deborah Berra (CH) offen über ihre Bedenken und fordern effektive Maßnahmen.
Einsatz gegen Kinderarbeit
Seit mehr als 60 Jahren setzt sich die Kindernothilfe weltweit für benachteiligte Kinder und ihre Rechte ein.
Zentral dabei sind u.a. Zugang zu Bildung, Schutz vor Gewalt und Unterstützung von arbeitenden Kindern. Wird das Problem „ausbeuterische Kinderarbeit“ – Ihrer Meinung nach – ausreichend von Politik und der Gesellschaft beachtet?
Katrin Weidemann: Das Internationale Jahr gegen Kinderarbeit 2021 hat zu etwas mehr Beachtung des Themas beigetragen. Wie auch die Debatten um das Lieferkettengesetz. Aber es wird noch immer zu wenig darüber gesprochen. Und vor allem zu wenig dagegen unternommen. Es braucht wirklich relevante und effektive Maßnahmen, um arbeitenden Kindern und Jugendlichen die Chance auf gute Bildungsmöglichkeiten und eine gesunde Entwicklung zu geben.
Gottfried Mernyi: Das Thema „ausbeuterische Kinderarbeit“ hat in den letzten Monaten tatsächlich etwas mehr an Aufmerksamkeit bekommen. Die Betroffenen selbst jedoch werden nach wie vor zu wenig in die Bemühungen um Lösungsansätze einbezogen. Mit einem bloßen Verbot von Kinderarbeit in Zuliefererverträgen wird sich für die Kinder und Jugendlichen nur wenig ändern.
Deborah Berra: In meinen Augen ist das einfache Verbot sogar kontraproduktiv. Denn es berücksichtigt nicht die Lebensrealität, in der sich die Kinder befinden. Die Komplexität des Themas verlangt nach einer breit abgestützten Vorgehensweise. Nur dann ist den Kindern tatsächlich geholfen.
Katrin Weidemann: Deshalb ist es wichtig, dass arbeitende Kinder und Jugendliche in sinnvoller Weise mit einbezogen werden („meaningful participation“). Sie müssen ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Forderungen in Debatten einbringen. Sonst können keine effektiven Maßnahmen entwickelt werden, die ihre Situation verbessern.
Ausbeuterische Kinderarbeit abschaffen
Als Mitglied der Alliance 8.7 unterstützt die Kindernothilfe das gemeinsame Ziel der Abschaffung von Kinderarbeit. Wie wichtig ist der Einsatz gegen Kinderarbeit auf politischer Ebene? Was fordern Sie von politscher Seite, damit Mädchen und Jungen nicht weiter unter ausbeuterischer Kinderarbeit leiden müssen?
Gottfried Mernyi: Das entschiedene Eintreten der Kindernothilfe gegen ausbeuterische Kinderarbeit braucht verstärkte Unterstützung. Sowohl der lokalen Partner in den Projekten und Regionen vor Ort als auch in Bündnissen und Netzwerken (in Europa).
Katrin Weidemann: Auch politische Akteur:innen müssen neben Familien, Schulen, Zivilgesellschaft und Arbeitgeber:innen mit einbezogen werden. Die Zusammenarbeit mit Politiker:innen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene ermöglicht es Kinderarbeiter:innen, in Diskursen und Debatten, die ihr Leben betreffen, ihre Sichtweise zu schildern. Wir fordern, dass die Politik diese Mädchen und Jungen und ihre Bedürfnisse ernst nimmt. Und so dazu beiträgt, wirklich effektive Maßnahmen zu entwickeln, die die Lebenssituation der Betroffenen verbessern und gemeinsam Veränderungen für ihr Leben bewirken. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass arbeitende Mädchen und Jungen weder ausbeuterische Kinderarbeit noch Gewalt und Diskriminierung erleiden. Stattdessen brauchen sie gute Bildungsangebote.
Deborah Berra: Denn nachhaltige Änderung ist nur möglich, wenn die Politik auch ihre Verantwortung wahrnimmt. Als Kindernothilfe „erinnern“ wir sie daran.
Gottfried Mernyi: Gerade in der Debatte um europaweit gültige, und Unternehmen verpflichtende Lieferkettengesetze müssen wir das Thema bei allen Akteuren unter Hinweis auf die Kinderrechtskonvention nachdrücklich einfordern.
Kinderarbeit in Zeiten von Corona
Die weltweite COVID-19-Pandemie hat gravierende Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von arbeitenden Kindern. Die aktuellen Zahlen der ILO zum Thema Kinderarbeit zeigen, dass die Anzahl arbeitender Kinder seit 2016 wieder zugenommen hat. Inwiefern ist das ein Rückschlag für die bisherigen Erfolge von Nichtregierungs-Organisationen? Was wünschen Sie sich persönlich für die betroffenen Kinder und ihre Familien?
Deborah Berra: Ich sehe es nicht als Rückschlag für die NGOs sondern als einen Rückschlag für unsere Welt. Ich persönlich bedaure diese Entwicklung sehr, ich sehe dadurch jedoch unsere Arbeit nicht in Frage gestellt. Jedes Kind, das wir in der Vergangenheit unterstützt haben, und in der Zukunft unterstützen können, zählt.
Katrin Weidemann: Die wachsende Anzahl arbeitender Kinder zeigt uns, dass die politischen Maßnahmen nicht effektiv waren und nicht einfach so weitergemacht werden kann wie bisher. Alle beteiligten Akteur:innen müssen in die Diskussion mit eingebunden werden. Für die Kinder und Jugendlichen wünsche ich mir, dass sie alle Zugang zu kostenlosen und guten Bildungsmöglichkeiten haben.
Gottfried Mernyi: Ich würde mich außerdem freuen, wenn die betroffenen Kinder und Familien in Zukunft verstärkt auf ihre Beteiligung an Lösungen der Missstände zählen können. Und auf konkrete Unterstützung durch die Kindernothilfe.
Kinderarbeit: Wie sieht die Zukunft aus?
Ein Blick in die Zukunft: Was möchten Sie im Hinblick auf Kinderarbeit heute in zehn Jahren erreicht haben? Welche Hoffnungen und Wünsche haben Sie?
Katrin Weidemann: Kinderarbeit ist ein komplexes und multidimensionales Phänomen. Da gibt es keine einfachen Antworten. Wir müssen Kinderarbeit immer im jeweiligen Kontext betrachten und dann dazu passende Maßnahmen entwickeln. Nicht über sie reden, sondern mit ihnen diskutieren – das ist mir auch bei arbeitenden Kindern und Jugendlichen wichtig. Ihre Partizipation muss fester Bestandteil jeder Lösungssuche sein.
Gottfried Mernyi: Wenn viele engagierte Menschen sich an vielen Orten weltweit aktiv in viele Aktionen einbringen, können sie gemeinsam die ausbeuterische Kinderarbeit erfolgreich Geschichte werden lassen.
Deborah Berra: Ich wünschte mir, dass kein Kind arbeiten müsste und alle Kinder dieser Welt die Möglichkeit hätten, als Kind aufwachsen zu dürfen.