Elfeinhalb Jahre ist es her, seit bei der verheerendsten Erdbebenkatastrophe in der Geschichte Lateinamerikas in und um Port-au-Prince 220.000 Menschen starben. Von den Folgen dieser Tragödie ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre bis heute gezeichnet und seine Menschen traumatisiert. Von Seismologen war es seit geraumer Zeit befürchtet worden: Jetzt am Samstagvormittag, 14. August, gegen 8:30 Uhr, entluden sich die tektonischen Spannungen zwischen der karibischen und der nordamerikanischen Platte erneut mit aller Wucht. Langjährige Kindernothilfe-Unterstützer Ulrike und Reinhard Schaller berichten aus Les Cayes im Südwesten des Landes vom Erdbeben und den Folgen.
Das Beben von der Stärke 7.2 verursachte diesmal im Süden Haitis – der 2010 verschont geblieben war – über 2200 Todesopfer, mehr als 12.000 Menschen wurden verletzt – und von Hunderten fehlt (Stand: 23.08.2021) noch immer jede Spur. Ihre Leichen werden unter eingestürzten Gebäude oder abgerutschten Berghängen vermutet. Betroffen sind diesmal vor allem die Departments Sud, Nippes und Grande‘ Anse – mit den großen Städten Les Cayes und Jérémie, sowie zahlreiche Dörfer und kleinere Orte an der Küste und im Hinterland. Tausende von Häuser, öffentliche Gebäude und ein wesentlicher Teil der Straßen- und Versorgungsinfrastruktur wurden durch das Erbeben zerstört. Die US-Erbebenwarte USGS befürchtete bereits am Samstag, 14. August, wenige Stunden nach dem Beben, eine Dimension dieser neuerlichen Katastrophe, die den betroffenen Teil Haitis auf Jahrzehnte hin zeichnen würde und rief die Alarmstufe „Rot“ aus. Als, ob das Alles noch nicht genug gewesen wäre, peitsche drei Tage nach dem Erdbeben, in der Nacht von Montag auf Dienstag vergangener Woche, der Tropensturm „Grace“ mit extremen Windgeschwindigkeiten und Starkregen über die Südwestküste Haitis und sorgte inmitten der Trümmerlandschaft für Überschwemmungen und weiteres Elend.
Kindernothilfe-Einsatz in Haiti
Kindernothilfe ist in der betroffenen Region seit vielen Jahren mit mehreren Partnern engagiert. Einem Netzwerk von Frauen Selbsthilfe-Gruppen (SHG) – sowie seit 2008 mit dem Berufsschulprojekt „Centre de Développment Côte Sud Haïti“ (CDCSH) in dem kleinen Ort Port-à-Piment. Für die Menschen im äußersten Südwesten Haitis ist dieses Erdbeben vom 14. August bereits die zweite Großkatastrophe innerhalb von weniger als fünf Jahren. Im Oktober 2016 wurde die Küste der Tiburon-Halbinsel vom Hurrikan „Matthew“ verwüstet. Damals starben über 1000 Menschen. Kindernothilfe-Ansprechpartner für das CDCSH-Projekt und zahlreiche Humanitäre Hilfe-Vorhaben in Port-à-Piment ist seit all diesen Jahren vor allem das Entwicklungshelfer-Ehepaar Ulrike und Reinhard Schaller. Ulrike Schaller arbeitet als Physiotherapeutin und Spezialistin für die Rehabilitation von Menschen mit Behinderung. Reinhard Schaller ist Berufsschullehrer mit jahrelanger pädagogischer Erfahrung in der Arbeit mit jungen Menschen. Unter anderem organisierte er mit Kindernothilfe-Unterstützung nach dem Erdbeben von 2010 Kurse mit Jugendlichen, die in Port-à-Piment gestrandet waren und mit ihm zusammen Techniken für den erdbebensicheren Wiederaufbau von Häusern erlernten. Inzwischen wissen wir, dass auch die Berufsschule, die nach „Matthew“ mühsam aufgebaut und ausgestattet werden konnte, durch das Erdbeben vom 14. August erhebliche Schäden davongetragen hatte.
Augenzeugenbericht
In dem nachfolgenden Bericht schildert Reinhard Schaller, wie er uns seine Frau die dramatischen Stunden unmittelbar nach dem Erdbeben vom 14. August in Les Cayes, wo sie wohnen, erlebt haben. Und auch wie sie seitdem versuchen, die anlaufenden Hilfsaktionen vor Ort zu unterstützen. Der Text von Reinhard Schaller wurde am Sonntag, 15. August, abgeschlossen. Die beigefügten Fotos von ihm, die er uns zur Verfügung stellte, sind allesamt während den ersten Stunden nach der Katastrophe entstanden.
Die gesamte Bevölkerung steht unter Schock
„Wir wurden, wie alle anderen auch, am Samstagfrüh von heftigen Erdstößen überrascht. Wir saßen im Wohnzimmer, als die Erde zu beben begann und überall die Sachen runterfielen. Es gab erstmal überhaupt keine Informationen darüber, wo sich das Epizentrum befand. Inzwischen steht jedoch fest, dass wir uns hier in Les Cayes 40 Kilometer südwestlich vom Epizentrum befinden. In unserer Stadt sind eine Reihe von Gebäuden zusammengebrochen, aber unser Eindruck ist, dass die Schäden nicht ganz so großflächig ausfielen wie 2010 bei der Katastrophe in Port-au-Prince. Uns persönlich geht es soweit gut, wir stehen immer noch etwas unter Schock, weil wir so ein starkes Beben ja noch nie erlebt haben. An unserem Haus gibt es zum Glück keine Schäden. Nur das gesamte Inventar hat sich bewegt und manches ging zu Bruch. Ulrike rannte sofort ins Krankenhaus rüber, um dort zu helfen. Das Hospital war zu diesem Zeitpunkt bereits voll von Verletzten. Einige von ihnen kennen wir persönlich. Ständig kommen neue hinzu. Das Krankenhausteam musste die Verletzten im Freien versorgen, weil der Platz im Inneren nicht mehr ausreichte und die Angst groß ist, sich im Gebäude aufzuhalten. Ich selbst habe miterlebt, wie einer jungen Frau auf dem Parkplatz die zahlreichen Wunden im Gesicht genäht werden mussten.“
Kaum Informationen
„Zunächst konnte man noch nicht sagen, wieviel Menschen ums Leben kamen. Am Samstag war zunächst von 100 bis 200 die Rede. Aber inzwischen werden es stündlich mehr. Offiziell sind es heute, Montagfrüh, laut der haitianischen Katastrophenschutzbehörde bereits über 1300 Tote. Im Gespräch mit Freunden und Bekannten hören wir immer wieder, dass es vor allem in den Bergen eine große Zahl von Opfer gab – und zwar vor allem durch Erdrutsche und heruntergefallene Steine. Wir vermuten, dass es wohl noch mindestens eine Woche dauert, bis man genauere Zahlen nennen kann. Hunderte Menschen sind noch verschüttet oder werden vermisst. Ständig hören wir, dass erneut an vielen Stellen weitere Tote gefunden wurden – oder Schwerverletzte die vergangenen zwei Nächte nicht überlebt haben. Aber die Nachrichtenlage ist nicht gut. Die meisten Menschen fühlen sich extrem schlecht informiert.
Zwei Stunden nach dem Beben habe ich zum ersten Mal versucht, mir auf dem Motorrad einen Überblick über die Situation in Les Cayes zu verschaffen. Mit dem Auto wäre man nicht durchgekommen. Die zwei Kilometer lange Strecke bis in die Innenstadt war komplett verstopft mit Tausenden von Menschen und Fahrzeugen. Überall zwischendrin gibt es eingestürzte Gebäude, an denen Helfer versuchen, Verschüttete und Tote zu bergen. Ich habe trotzdem den Eindruck, dass die eigentliche Bausubstanz des Stadtzentrums von Les Cayes relativ gut standgehalten hat. Aber alle Geschäfte sind geschlossen und die meisten Menschen haben jetzt schon zwei Nächte aus Angst vor Nachbeben auf der Straße verbracht.
Während des ganzen Tages kamen Leute zu uns, um Hilfe zu suchen, vor allem, weil zahlreiche Wasserleitungen beschädigt wurden. In den ersten 24 Stunden nach dem Beben hatten auch wir nur erdbraunes Wasser aus der Leitung. Ich vermute, dass durch die tektonischen Erschütterungen der gesamte Grundwasserspiegel aufgewühlt wurde. Auch aus allen Tiefbrunnen kommt nur braune Brühe. Es gibt kaum Trinkwasser.“
Ein Bild der Verwüstung
„Am späteren Samstagnachmittag versuchte ich, schnell noch ein paar Sachen zu beschaffen und unsere Vorräte aufzustocken. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass das ein sinnloses Unterfangen ist. Fast alle Läden haben geschlossen – und in dem einzigen, der offen hatte, drängten sich so viele Menschen, die alles aufkauften, was sie ergattern konnten. Aber wir haben noch genug zu Hause, so dass wir über die nächsten Tage kommen werden. Am späten Nachmittag brach ich noch einmal mit dem Motorrad auf, um die Lage im Hinterland zu erkunden. Je weiter ich Richtung Jérémie die Berge hinauffuhr, umso verheerender stellte sich die Lage dar. Überall Risse in der Straße, teilweise richtig tiefe Gräben. Ganz viele Häuser sind komplett eingestürzt. Dann sah auf einmal auf einem Parkplatz viele Busse voller Menschen. Da wurde mir klar, dass es kein Durchkommen nach Jérémie gibt. Weiter oben in den Bergen verstand ich, warum: Überall ist die Straße verschüttet! Und an einer Stelle war der halbe Berg heruntergekommen und riß alles mit.“
Erste Hilfeleistungen
„Ulrike hat jetzt seit dem Beben viele Stunden im Krankenhaus gearbeitet, um Notfallhilfe zu leisten. Stündlich werden neue Verletzte eingeliefert. Alles ist überfüllt und das medizinische Personal kommt kaum noch nach. Immerhin erreichten uns am Sonntagnachmittag hier am Flughafen erste Hilfslieferungen. Ich habe beim Entladen der Maschinen und der Organisation der Verteilung mitgearbeitet. Aber das gestaltet sich sehr schwierig, Die Hilfsgüter reichen auf keinen Fall für alle Notleidenden. Eine große Erleichterung für das Krankenhaus ist, dass mit den entladenen Maschinen vom Flughafen aus auch eine Reihe Schwerverletzte ausgeflogen werden konnten.
Sorgen macht uns, dass jetzt zum Beginn dieser Woche ein tropischer Sturm über Haiti angekündigt wurde. Wir werden sehen, was da noch kommt. Wir werden auf alle Fälle versuchen, über unsere Möglichkeiten die Menschen hier zu unterstützen, so gut es geht. Vielen Dank für alle Eure Gedanken, Gebete und Eure Mitsorge um die Menschen hier in Les Cayes – und um uns – in diesen schweren Stunden nach dem Erdbeben!“