Im vergangenen Jahr ist die Digitalisierung stark vorangeschritten – auch mit negativen Konsequenzen. So haben Darstellungen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Internet zeigen, deutlich zugenommen. Besonders abscheulich sind dabei Live-Übertragungen von sexualisierter Gewalt, die weltweit empfangen werden können und dadurch die Strafverfolgung erschweren. Die deutsche Regierung reagierte auf die wachsende Gefahr aus dem Netz mit einem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder.
Text: Dr. Magdalene Pac, Titelbild: Lars Heidrich
Das alltägliche Leben hat sich durch die Pandemie und ihre Folgen – Lockdowns, Schulschließungen und Reisebeschränkungen – weltweit stark verändert. Viele Lebensbereiche verlagern sich ins Internet. Nicht nur Erwachsene verbringen viel Zeit im Homeoffice, auch Kinder werden oft von Zuhause aus unterrichtet und sitzen deshalb vor den Bildschirmen. In ihrer Freizeit nutzen sie zusätzlich immer öfter soziale Medien und Online-Videospiele. Dabei sind die Kinder oftmals unbeaufsichtigt. Zudem sinkt das Alter von Kindern, die in die Online-Welt einsteigen.
Verlagerung vieler Lebensbereiche ins Internet
Die Digitalisierung bringt jedoch nicht nur Vorteile mit sich, sondern birgt auch Gefahren, vor allem für Kinder. Denn auch kriminelle Aktivitäten verlagern sich ins Netz – zusammengefasst unter dem Begriff Cyber-Kriminalität. Das Internet entwickelt sich immer zum Schauplatz von Gewalt und immer öfter wird es für missbräuchliche Zwecke genutzt. Das ist ein weltweites Phänomen mit dramatischen Steigerungsraten im vergangenen Jahr.
Das bestätigt auch Johannes-Wilhelm Rörig, seit 2011 Unabhängiger Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs: „Das Netz ist überschwemmt von Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornographie. Deutschland muss jetzt handeln, damit die polizeiliche Ermittlungsarbeit nicht vollends zusammenbricht. Denn schon jetzt werden Durchsuchungsbeschlüsse zu Hunderten nicht vollstreckt, während der Nachschub an Missbrauchsbildern und -videos für Pädokriminelle nicht abreißt.“
Online-Gewalt: Reale Gefahr für Kinder im digitalen Raum
Sexualisierte Gewalt im Internet beginnt oft scheinbar harmlos. Erwachsene geben sich zum Beispiel als Kinder aus, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Sie bauen allmählich Vertrauen zu diesen Kindern auf mit dem alleinigen Ziel, ihnen sexualisierte Gewalt anzutun. Den Kontakt stellen sie über Chat-Funktionen von Online-Spielen oder soziale Medien her. Dieses Vorgehen wird als Grooming bezeichnet. Ein sehr ernstzunehmendes Problem ist auch die Darstellung sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Internet, oft unzutreffend als Kinderpornografie bezeichnet. Diese Darstellungen waren schon vor der Pandemie sehr zahlreich und haben sich seitdem nochmals vervielfacht.
Behörden und Netzwerke melden steigende Zahlen
Verdächtiges Material aus der ganzen Welt sammelt unter anderem das halb-staatliche Nationale Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder (National Center for Missing and Exploited Children – NCMEC) in den USA. Nach einer Prüfung leitet es die Medien für eine Strafverfolgung an die zuständigen Stellen weiter. Für die Jahre 2020/21 registrierte NCMEC eine Steigerung der eingehenden Verdachtsmeldungen um 31 Prozent.
Konkret erhöhte sich die Anzahl der Reporte von 16 Mio. Meldungen im Jahr 2020 auf 21 Mio. 2021. Ein Großteil der Meldungen stammt von Facebook. Das verdeutlicht, dass sexualisierter Online-Gewalt gegen Kinder nicht nur im sogenannten Dark Web stattfindet, sondern auch und vor allem im größten sozialen Netzwerk der Welt. Das FBI schätzt, dass weltweit täglich rund 750.000 potenzielle Sexualstraftäter auf der Suche nach Kindern im Internet sind.
Live-Übertragungen von sexualisierter Online-Gewalt gegen Kinder
Besonders abscheulich ist die Live-Übertragung von sexualisierter Gewalt – Missbrauch von Kindern auf Bestellung – „On demand“ sozusagen. Dabei sitzt der Täter oftmals tausende Kilometer entfernt und kann gegen einen kleinen Geldbetrag Anweisungen geben, was mit einem Kind geschehen soll.
Leider hat sich eines unserer Partnerländer zu einem Hotspot für diese grausamen Verbrechen an Kindern entwickelt: die Philippinen. Eine Studie der International Justice Mission hat ermittelt, dass sich die Ausbeutung von Kindern im Internet auf den Philippinen innerhalb von drei Jahren verdreifacht hat. Gründe für diese traurige Spitzenreiterrolle sind die weite Verbreitung der englischen Sprache, die Verfügbarkeit von Internetverbindungen sowie internationale Geldtransfersysteme. Hinzu kommt eine seit langem bestehende Armut, die sich durch die Pandemie verschärft.
Die Entwicklung in den Philippinen macht zugleich die internationale Verquickung deutlich: Die Täter sitzen in weit entfernten reicheren Ländern, vor allem in Europa und Nordamerika. Von dort aus missbrauchen sie auf digitalem Wege Kinder, deren Familien besonders stark von Armut betroffen und die besonders schutzbedürftig sind.
Erste Voraussetzung für die Strafverfolgung sexualisierter Online-Gewalt ist daher die internationaler Zusammenarbeit der beteiligten Behörden. Die NCMEC, die Polizeibehörde der Europäischen Union und Interpol spielen in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle. Sie müssen in ihrer Arbeit weiterhin gestärkt werden.
Auch Johannes-Wilhelm Rörig sieht die dringende Notwendigkeit einer verstärkten Vernetzung über Landesgrenzen hinweg: „Pädokriminelle-Plattformen wie ‚boystown‘ zeigen, wie riesig das internationale Netzwerk der Täter und Täterinnen ist. Die Netz-Knotenpunkte müssen noch viel häufiger geknackt werden. Wir brauchen eine auch international schlagkräftige Cyberpolizei, damit sich Missbrauchstäter:innen im Netz nicht mehr sicher fühlen können.“
Deutschland führt härtere Bestrafung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder ein
In Deutschland hat die Bundesregierung nun auf das steigende Gefahrenpotenzial für Kinder reagiert. Sie verabschiedete in diesem Jahr (2021) ein Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Es verfolgt einen umfassenden Ansatz und enthält mehrere weitreichende Maßnahmen. Unter anderem soll dadurch die Strafverfolgung effektiver gestaltet werden. Deshalb werden die Ermittlungsbefugnisse auch im Bereich der Online-Durchsuchung und der Telekommunikationsüberwachung erweitert.
Das Gesetz beinhaltet auch eine Verschärfung im Strafrecht: Es stuft Missbrauchstaten und den Besitz sowie die Verbreitung von sexualisierten Missbrauchsdarstellungen nun stets als Verbrechen und nicht mehr nur als Vergehen ein. Das Strafmaß beträgt mindestens ein Jahr Haft. Das Gesetz, das am 1. Januar 2022 in Kraft tritt, ist ein wichtiger Schritt für einen besseren Schutz von Kindern.
Doch nach Ansicht von Rörig, der als Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs noch bis 2024 im Amt ist, müssen Politik und Gesellschaft noch viel mehr unternehmen, um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Netz konsequenter und nachhaltiger zu bekämpfen: „Der nächste Bundestag ist gut beraten, wenn er eine starke Enquete-Kommission einsetzt, in der dann Datenschutz, Kinderschutz, Ermittler:innen, Cyberkriminolog:innen, Bildungspolitik, Medienpädagogik, die großen Onlineplayer und die Gaming-Industrie gemeinsam eine Grundsatzstrategie zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Netz erarbeiten.“