Kinderehe: Frühverheiratung nimmt Mädchen die Zukunft

Vier Mädchen in Schuluniformen auf ihrem Schulweg

Jährlich werden weltweit 12 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Diese Kinderehen haben oft mit Armut und Hunger zu tun – eine verheiratete Tochter bedeutet eine Esserin weniger im elterlichen Haushalt. Oft spielen aber auch Traditionen eine Rolle. Fakt ist, dass sie schädlich für Mädchen und junge Frauen sind. Die Frühverheiratung verhindert ihre persönliche Entwicklung und verletzt ihre Grundrechte auf Bildung, Gesundheit und Sicherheit.

Von Justina Delling

Eine Eheschließung gilt als Kinderehe, sobald einer der beiden Partner noch nicht 18 Jahre alt ist. Dies ist problematisch, weil Minderjährige oft noch nicht die nötige körperliche und emotionale Reife besitzen. In vielen Ländern ist die Eheschließung mit Minderjährigen deshalb illegal. Außerdem werden Mädchen oft dazu gedrängt oder gar gezwungen, früh zu heiraten, Kinderehen sind also oft eine Form der Zwangsheirat. Häufig müssen junge Mädchen zudem viel ältere Männer heiraten und erleiden so ein abruptes Ende ihrer Kindheit. Das kann  verheerende Auswirkungen auf ihr körperliches und psychisches Wohlergehen haben. Weil Frühverheiratung die Gesundheit von Minderjährigen gefährdet und oft durchgesetzt wird, ohne die Betroffenen zu fragen, handelt es sich um eine schwere Form der Kinderrechtsverletzung.

23 Kinderehen pro Minute

Jährlich werden auch heute noch rund 12 Mio. minderjährige Mädchen verheiratet – das sind 23 Kinderehen pro Minute! Anders als oft unterstellt betrifft das nicht vordergründig muslimisch geprägte Länder. Kinderehen gibt es überall auf der Welt. Das Problem zieht sich durch die verschiedensten Länder, Kulturen, ethnischen Gruppierungen und Religionen. Besonders stark betroffen sind die Länder südlich der Sahara und Südasien. Bangladesch etwa zählt zu den Ländern mit der höchsten Heiratsrate von minderjährigen Mädchen. Laut einer UNICEF-Studie werden 59 % von ihnen unter 18 und fast 22 % sogar unter 15 Jahren verheiratet. Weltweit ist jedes fünfte Mädchen vor seinem 18. Geburtstag eine Ehe eingegangen – dieses Schicksal teilen mittlerweile insgesamt 650 Mio. Mädchen und junge Frauen!

Eine junge Mutter hält in ihrem Haus ein Baby auf dem Arm, ein Mädchen steht dicht bei ihr und dem Kleinkind, ein weiteres hinten in der Zimmerecke
Viele junge Mütter müssen sich um Haushalt und Kinder kümmern und können ihre Bildung nicht fortsetzen, wie Thelma in Guatemala.
Ursachen von Frühverheiratung

Viele Familien verheiraten ihre jungen Töchter aus großer Not heraus, etwa weil die Familie in extremer Armut lebt. Oft ist einfach nicht genug da, um alle Kinder satt zu bekommen. Auch fehlende Aufklärung und unzureichender gesetzlicher Schutz junger Mädchen spielen eine Rolle. So wollen viele Familien ihre Töchter vor sexueller Belästigung schützen. Sie nehmen an, dass die Mädchen durch eine Heirat in Sicherheit sind. Natürlich steht Frühverheiratung auch im Zusammenhang mit sozialen und kulturellen Gepflogenheiten, herabsetzenden Rollenbildern und Bevormundung. In Gegenden, wo Mädchen üblicherweise früh verheiratet werden, lastet ein großer gesellschaftlicher Druck auf den Familien, selbst wenn sie ihre Töchter eigentlich noch für zu jung halten. Umgekehrt haftet nicht verheirateten älteren Mädchen schnell der Ruf an, unfruchtbar und nicht heiratsfähig zu sein.

Im Young Voices National Report wird noch ein anderer Grund hervorgehoben. Der Bericht wurde im Jahr 2020 in Indien erstellt. Er behandelt die Frage, ob das legale Heiratsalter angehoben werden sollte. Mit 28 Prozent landeten begrenzte Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten unter den 2.500 befragten Jugendlichen auf Platz Eins der Gründe für Frühverheiratung. Auch die Angst der Eltern, ihre Töchter könnten eine unangemessene Liebesbeziehung eingehen, spielte eine Rolle, ebenso wie die sexuelle Belästigung von Mädchen in der Öffentlichkeit.

Der Bericht schildert deutlich, dass Mädchen oft glauben, sie hätten keine andere Wahl. Sie nehmen sich selbst als Belastung für ihre Familie war. Fehlende Bildungschancen, keine Aussicht auf Arbeit und die systematische Zurücksetzung von Frauen und Mädchen treiben sie in die frühzeitige Heirat. Außerdem beklagen die Mädchen, dass sie keinen Zugang zu Verhütungsmitteln und sexueller Aufklärung haben. Das führt zu vielen ungewollten Schwangerschaften. Wird ein unverheiratetes Mädchen von ihrem Freund schwanger, dann werden die Jugendlichen von allen Seiten zur Heirat gedrängt. Den jungen Männern droht sogar eine Strafanzeige.

Folgen für die jungen Ehefrauen

Frühverheiratung kann verheerende Auswirkungen auf die jungen Mädchen haben. Häufig sind sie für den Rest ihres Lebens finanziell von ihrem Ehepartner abhängig. Nach der Eheschließung wird meist schnell Nachwuchs erwartet. Eine frühzeitige Schwangerschaft geht jedoch mit einem hohen Gesundheitsrisiko für die junge Mutter und das Neugeborene einher.

Zudem brechen die Mädchen oft die Schule ab und kehren danach nur sehr selten zurück. Von ihnen wird vielmehr erwartet, den Haushalt zu machen und die Bedürfnisse ihrer Ehemänner zu befriedigen. Sexueller Missbrauch und Gewalt sind weit verbreitet. Nicht selten stehen Kinderehen auch im Zusammenhang mit weiteren gesundheitlichen Folgen für die Mädchen. Sie stecken sich zum Beispiel mit schweren Krankheiten wie HIV/Aids an oder leiden an psychischen Erkrankungen.

Frühverheiratung betrifft auch diese Frau im rosafarbenem Gewand. Sie steht mit ihrem Baby auf dem Arm in einer kargen Wüstenlandschaft und blickt zu Boden.
Die junge Afar-Nomadin in Äthiopien ist Opfer einer verheerenden Dürreperiode geworden und auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Klimawandel ist hier deutlich zu spüren und wirkt sich auch negativ auf die Frühverheiratung aus.
COVID-19 und der Klimawandel verschärfen das Problem

Kinderehen sind in den letzten zehn Jahren weltweit zurückgegangen. Doch der Trend könnte sich  durch die großen globalen Krisen in Zukunft umkehren. Wegen des Klimawandels treten zum Beispiel mehr Extremwetterereignisse wie Dürreperioden und Flutkatastrophen auf. Sie gefährden die Ernährungssicherheit und verstärken die finanziellen Nöte vieler Familien noch zusätzlich.

Im östlichen Afrika zum Beispiel kommt es vor, dass Familien ihre Töchter gegen Ziegen tauschen, um die Existenz zu sichern. Ähnliches trifft auf Familien in Konflikt- und Kriegsregionen zu sowie auf Bevölkerungsgruppen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind. Auch hier ist die Not oft so groß, dass sich die Eltern gezwungen sehen, ihre Töchter möglichst früh zu verheiraten.

Die weltweite COVID-19-Pandemie droht die Lage der betroffenen Mädchen zusätzlich zu verschlimmern. Bedrohlich ist nicht nur das Virus selbst, sondern auch Gegenmaßnahmen wie monatelange Schulschließungen. Untersuchungen in Bangladesch zeigen, dass die Umstellung von Präsenz- auf Fernunterricht vor allem Kinder und Jugendliche in ärmeren, ländlichen Gebieten benachteiligt. Oft fehlen die nötige technische Ausstattung und der Internetzugang.

Besonders Mädchen sind betroffen, weil sie im Gegensatz zu ihren Brüdern weniger Freizügigkeit genießen. Sie sitzen zu Hause, langweilen sich und verlieren jede Zukunftsperspektive. Den einzigen Ausweg sehen sie in einer frühen Heirat. Unter diesen Umständen sind es mitunter sogar die Mädchen selbst, die eine Heirat anstreben – Tendenz steigend. Diese verheerende Entwicklung stellt uns alle vor neue globale Herausforderungen. Die Zukunftsaussichten und Entfaltungsmöglichkeiten von Mädchen weltweit sind dabei, sich zu verschlechtern.

Durch COVID-19 erhöhen sich auch die Risiken für junge Frauen in der Ehe. Die Ehemänner haben oft ihre Arbeit verloren oder müssen wegen des Lockdowns tagsüber zu Hause bleiben. Die finanziellen Probleme sorgen für Spannungen und Konflikte im familiären Umfeld und führen leicht zu häuslicher und sexualisierter Gewalt.

Das Problem bei der Wurzel packen

Im „Young Voices National Report“ aus Indien betonen die befragten Jugendlichen, dass es nicht hilft, einfach das gesetzliche Heiratsalter anzuheben, solange sich nicht auch die gesellschaftlichen und kulturellen Normen ändern. Auch weisen sie darauf hin, dass Heirat nicht die einzige Möglichkeit ist, um Mädchen in der Gesellschaft zu schützen und abzusichern. So meint die jugendliche Aktivistin Uttar Pradesh: „Mädchen können ohne Ehe glücklich sein. Sie können auf eigenen Füßen stehen und trotzdem sicher und glücklich leben.“

Als zentrales Element in der Bekämpfung von Kinderehen sehen sie bessere und bezahlbare Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. Mädchen brauchen Anreize, damit sie die Schule nicht abbrechen und frühzeitig heiraten. Die Ungleichheit der Geschlechter muss abgebaut werden – Mädchen brauchen eine echte Chance auf Selbstverwirklichung und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die junge Inderin Gujarat drückt das so aus: „Wenn man als junger Mensch in der Lage ist, zu träumen, dann wird man hart arbeiten und alles dafür tun. Da darf man auch den Konflikt mit den Eltern nicht scheuen. Aber dafür müssen sich die Jugendlichen über ihre Träume im Klaren sein. Wenn sie die nicht haben, werden sie einfach tun, was die Eltern ihnen sagen, ohne dabei viel über das eigene Leben nachzudenken.“

Die befragten Mädchen fordern außerdem mehr Mitspracherecht, wenn es um ihren Körper, ihre Gesundheit und ihre Sexualität geht. Sie setzen sich für die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit ein und wünschen sich eine echte Gleichstellung im Alltag und Räume für Empowerment.

Selbsthilfegruppen gegen Frühverheiratung: Vier Frauen sitzen nebeneinander in typisch nepalesischen Gewändern. Eine hält einen kleinen Jungen auf dem Arm. Zwei Frauen lächeln und sehen fröhlich aus.
In Selbsthilfegruppen können sich junge Frauen zusammentun. Sie sind füreinander da und setzen sich gemeinsam für ihre Anliegen ein, wie diese jungen Frauen aus Nepal.
Initiativen gegen Frühverheiratung

Auch die Initiative Girls not Brides setzt sich dafür ein, dass jedes Mädchen sein eigenes Leben selbstbestimmt gestalten kann. Dahinter steht eine 2011 gegründete globale Vereinigung von mehr als 1.300 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus über 100 verschiedenen Ländern. Ihr Ziel ist die vollständige Abschaffung der Kinderehe. Daran arbeiten sie unter anderem mit dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF, denn auch die Vereinten Nationen streben das Ende der Kinderehe bis 2030 an.

Auch wir kämpfen mit unseren lokalen Partnerorganisationen für eine soziale, wirtschaftliche und politische Stärkung von Mädchen und Frauen. Dank der Organisation in Selbsthilfegruppen sind sie in der Lage, sich auszutauschen und ihrer gemeinsamen Stimme Gehör zu verschaffen: gegen Frühverheiratung und für ein selbstbestimmtes Leben mit echten Zukunftsperspektiven.

 

Autor: Kindernothilfe e.V.

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