Gerade einmal anderthalb Monate ist es her – das chilenische Referendum. Knapp 80 Prozent der Wahlberechtigten stimmten damals für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Für viele Menschen in Chile war das ein intensiver und historischer Moment, voller Hoffnung und Enthusiasmus – mitten in einem von der Pandemie geschwächten Land. Doch der Optimismus der Bevölkerung schlägt langsam um in Ernüchterung. Denn ihnen allen ist klar: Der steilste Teil des Weges steht ihnen noch bevor.
Von Jürgen Schübelin und Nina Zegowitz
José Horacio Wood von unserem chilenischen Partner Fundación ANIDE zieht noch eine andere, ernüchternde Bilanz: „Mir wäre es sehr wichtig gewesen, gerade in den Vierteln der ärmeren Menschen eine deutlich höhere Wahlbeteiligung zu erreichen.“ Bestätigt hat sich diese Hoffnung nicht. Am Ende stellte sich heraus, dass fast die Hälfte der Chilenen aus ärmeren Verhältnissen nicht an der Abstimmung teilnehmen wollte. „Ganz viele Menschen misstrauen der politischen Klasse zutiefst“, weiß Claudia Vera von ANIDE.
Auf Hoffnung folgt Ernüchterung
Das mag auch mit der politischen Strategie derjenigen Parteien zusammenhängen, die bis zum Schluss hinter dem Pinochet-System standen – einer Diktatur, die tausende Menschenrechtsverletzungen beging und aus deren Zeit die aktuelle Verfassung stammt. Zwar stimmte die chilenische Bevölkerung am 25. Oktober mit überwältigender Mehrheit dafür, dass ein Konvent gewählt wird, der die neue Verfassung innerhalb von neun Monaten erarbeiten soll. Doch die Regierungskoalition um Präsident Piñera hat erreicht, dass die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung am 11. April 2021 nach einem Auszählungsverfahren ablaufen soll, das den alten Machtapparat begünstigt.
„Wir brauchen einen Rechts- und Sozialstaat“
Claudia Vera setzt ihre Hoffnung deshalb auf die Zivilgesellschaft und Organisationen wie „cabildos“ (Räte) und „asembleas territoriales“ (Ortsversammlungen). Gemeinsames Ziel muss es ihrer Meinung nach sein, die Parteien, die nicht für die „alte Ordnung“ stehen, auf unveräußerliche Elemente der neuen Verfassung einzuschwören. Dazu gehört die Hoffnung, endlich in einem Land leben zu können, in dem die Menschenrechte garantiert werden. Ein Land, dessen Regierung die Prinzipien eines Sozial- und Rechtsstaats durchsetzt, bürgerschaftliche Teilhabe ermöglicht und die Rechte der indigenen Bevölkerung anerkennt. „Wir brauchen einen Rechts- und Sozialstaat, in dem die Beziehung zwischen Staat und Bürgern auf verbrieften Rechten und nicht auf Willkür beruht“, wünscht sich Claudia Vera.
Die Regierung setzt auf Aktivismus
Denn genau das ist es, was die Menschen in Chile während dieser schrecklichen Pandemie so schmerzhaft vermissen: eine aktive Sozialpolitik auf der Grundlage von Gesetzen. Doch statt nachhaltiger Unterstützung legt die chilenische Regierung eher Wert auf öffentlichkeitswirksame Aktionen – von denen nach zwei Wochen nichts mehr zu spüren ist. Schlagendes Beispiel: eine Verteilaktion von Lebensmitteln und Hygiene-Artikeln in den Armenvierteln. „Das war eine typische Regierungsaktion für die Fernsehkameras“, schimpft Claudia Vera. Der Staat verschenke kartonweise Essen, und wer leer ausgehe, habe eben Pech gehabt. In Europa haben wir ein Recht auf Grundsicherung – die Menschen in Chile kennen so etwas nicht.
Arbeit statt Schule – „eine Katastrophe in der Katastrophe“
Dabei wird die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in Chile während der Lockdown-Monate deutlicher als je zuvor. Und nirgendwo sind die Unterschiede so offensichtlich wie beim Blick in die Schulen. „Durch den Lockdown reißt möglicherweise der Kontakt zu über 100.000 Schülern komplett ab“, befürchtet José Horacio Wood: „Das ist eine Katastrophe in der Katastrophe!“ Denn während der Pandemie können es sich viele Familien schlicht nicht leisten, dass ihre Kinder eine Schule besuchen. Stattdessen müssen sie arbeiten. „59 Prozent aller Familien in Chile geben an, dass sich durch Corona ihr Einkommen empfindlich verringert hat“, erklärt Wood. Und um ihre finanzielle Lage etwas zu verbessern, ist natürlich jeder Peso willkommen – die arbeitenden Kinder sind deshalb oft die einzige Hoffnung der Familien, um nicht auf der Straße zu landen.
Auf der Verfassung ruhen große Hoffnungen
Die Erfahrungen aus früheren Wirtschaftkrisen zeigen, dass es ungeheuer schwierig ist, Kinder nach längerer Pause wieder ins Klassenzimmer zurückzuholen. Warum? Wenn sie einmal die Unterrichtsroutine verloren haben und aus dem sozialen Gefüge der Schule herausgefallen sind, fehlt ihnen oft die Motivation. Ein Grund zur Hoffnung ist für Claudia Vera deshalb neben der Arbeit von ANIDE gerade die neue Verfassung: „Als Erstes müssen wir erreichen, dass endlich auch in Chile ein Kinderrechte-Statut verabschiedet wird!“ Die Kinderrechte müssen in die neue Verfassung! Dass das überfällig ist, zeigen über 1.300 Todesfälle sowie 2.071 Vergewaltigungen und andere schwere Sexualdelikte in Einrichtungen der staatlichen Kinder- und Jugendbehörde SENAME.
Soziale Ungleichheit aus den Klassenzimmern verbannen
Chile braucht auch einen Durchbruch bei der Entwicklung einer neuen Bildungspolitik. Dabei muss alles auf den Prüfstand. Es geht um die Forderung nach hochwertiger Bildung für alle Kinder und eine Schulordnung, die die extremen sozialen Ungleichheiten nicht reproduziert. Denn eines darf man nicht vergessen: Es waren Schüler, Kinder und Jugendliche, die bei den Demonstrationen in Santiago de Chile gegen die soziale Ungleichheit ab dem 18. Oktober 2019 mutig vorangegangen sind. Sie haben die Volksabstimmung vor einem Monat maßgeblich mit erzwungen!