Patenschaft: Ein denkwürdiger Anruf

Joanna Dalva, Jürgen und Christel Kriegel bei einem Besuch an der Nordsee (Quelle: Selfi, Joanna Dalva)
Joanna Dalva und ihre Paten in Greetsiel

Christel und Jürgen Kriegel aus Freckenhorst hatten 1995 eine Patenschaft für ein kleines, brasilianisches Mädchen übernommen. Ende 2008, mit dem Beginn ihrer Ausbildung als Krankenschwester, schied Joanna aus dem Programm aus. Kriegels hörten nichts mehr von ihr – acht Jahre lang. Und dann erhielten sie auf einmal aus heiterem Himmel einen sonderbaren Telefonanruf.

Text: Gunhild Aiyub

Es ist abends um halb zehn. Bei Familie Kriegel im Münsterland klingelt das Telefon. Eine Frau mit ausländischem Akzent meldet sich und fragt: „Sind Sie Christel?“
„Ja“, sagt Frau Kriegel verblüfft.
„Gibt es bei Ihnen auch Jürgen?“
„Ja …“
„Kennen Sie eine Joanna Dalva?“

„In dem Moment hab ich eine Gänsehaut bekommen“, erzählt Frau Kriegel im Telefoninterview, „ich hab gedacht: Was kommt denn jetzt? Ich hab dann wieder Ja gesagt.“ „Oh“, erwidert die Fremde am Telefon, „dann ist es ja gut, dass ich Sie gefunden habe. Joanna sucht Sie, sie möchte sich bei Ihnen bedanken für das, was Sie während der Patenschaftt für sie getan haben.“

In Frau Kriegels Kopf überschlagen sich die Gedanken. Joanna? Ihr ehemaliges Patenkind aus Brasilien? Wie ist das möglich? „Warten Sie mal einen Moment“, fährt die Anruferin fort, „sie ist gerade online. Können Sie mir Ihre E-Mail-Adresse durchgegeben?“ Christel Kriegel fühlt sich immer noch wie im Traum und nennt ihre Adresse. Kurze Zeit später bekommt sie eine Mail von Joanna: „I’m so glad to find you!“

„Das war ja völlig verrückt …“

Ich ahne, dass dieser Anruf Frau Kriegel und ihren Mann auch heute noch, vier Jahre später, tief berührt. Der Ausruf „Das war ja völlig verrückt“, fällt mehrmals in unserem Interview – sowohl von ihr wie auch von mir. Als langjährige Redakteurin bei der Kindernothilfe und trotz vieler Interviews mit Paten und Spendern habe ich so eine Geschichte bisher auch noch nicht gehört.

Christel Kriegel erzählt weiter: „Dann sagte die Frau noch: ‚Sie können auch Joannas Mann anrufen. Sie ist verheiratet und lebt in Chemnitz. Ich gebe Ihnen mal die Telefonnummer.‘“

Joannas frühere Paten brauchten zwei Tage, um den Anruf und das unverhoffte Wiederaufleben der Patenschaft zu verarbeiten. „Auf der einen Seite war das wie ein Sechser im Lotto, man kann das Gefühl eigentlich gar nicht beschreiben, das wir beide hier hatten“, meint Christel Kriegel. „Das war wirklich total verrückt … Andererseits gingen bei meinem Mann und mir die Alarmglocken an.“ Sie hatten sofort Geschichten von älteren Männern im Kopf, die junge Mädchen aus dem Ausland zu sich holen.

Joannas Kindernothilfe-Patenschaftsbogen von 1995
Joannas Kindernothilfe-Patenschaftsbogen von 1995
Das erste persönliche Treffen

Sie recherchierten, wer die mysteriöse Anruferin war, und stießen auf einen Suchdienst für Ausländer in Deutschland. Dann riefen sie schließlich mit Herzklopfen bei der Nummer an, die sie von der Frau bekommen hatten. Die Stimme ihrer ehemaligen Patentochter zu hören, war einfach überwältigend – und ebenso die Erleichterung, dass es mit ihrer Heirat absolut nichts Anrüchiges auf sich hatte. Und jetzt wollten sich alle Beteiligten auch so schnell wie möglich persönlich treffen. Kriegels setzten sich kurzentschlossen in ihren Wohnwagen und fuhren nach Chemnitz.

Das Treffen war, wie sich jeder vorstellen kann, sehr emotional. Als Kriegels das kleine brasilianische Mädchen per Foto und Kindernothilfe-Unterlagen 1995 zu Beginn der Patenschaft kennenlernten, war es vier Jahre alt. Es lebte mit seiner alleinerziehenden Mutter in einer Favela in Rio. Der Vater kehrte später zu seiner Familie zurück, und Joanna bekam noch Zwillingsbrüder, die im selben Kindernothilfe-Projekt aufgenommen wurden.

Zwölf Jahre lang unterstützten die Paten aus dem Münsterland die junge Brasilianerin. Anhand ihrer „ersten Krakelschriften, so wie Kinder die Buchstaben eher malen statt schreiben“, bis zum Ende ihres 16. Lebensjahres haben sie regelmäßig Post von ihr bekommen und konnten ihre Entwicklung verfolgen. „Sie hat sich sehr, sehr gut entwickelt“, bestätigt Christel Kriegel.

Joanna und ihre früheren Paten sind glücklich, sich gefunden zu haben (Quelle: Christel Kriegel)
Joanna und ihre früheren Paten sind glücklich, sich gefunden zu haben (Quelle: Christel Kriegel)
„Wir haben uns sofort verstanden“

Während ich mit Frau Kriegel telefoniere, blättert sie in dem dicken Ordner mit Joannas Briefen und liest mir eine ihrer Antworten vor: „Ich bin sehr glücklich und danke euch vielmals für die Karte. Welch schönes Haus und wie schön ist der Hafen von Hamburg. Mir hat’s die Sprache verschlagen. Sehr hübsch!“

In ihrem letzten Brief schrieb Joanna, dass sie eine Ausbildung zur Krankenschwester machen würde. Ende 2008 schied sie planmäßig aus der Patenschaft aus, und ihre Paten hörten nichts mehr von ihr – acht lange Jahre nicht. Da sie ihre Adresse nicht hatten, konnten auch sie ihr nicht schreiben.

2016 konnten die Eheleute ihre mittlerweile 24-jährige ehemalige Patentochter in die Arme schließen. „Wir haben uns sofort verstanden“, schwärmt Christel Kriegel. „Während der Patenschaft hatte ich mich einmal bemüht, ihr eine Geburtstagskarte auf Portugiesisch zu schreiben. Diese Karte hat sie uns bei unserem ersten Besuch sofort gezeigt. Sie hat sie immer bei sich.“ Nicht nur sie ist völlig gerührt von dieser Geste.

Joanna an der deutschen Nordseeküste (Quelle: Ehepaar Kriegel)
Joanna Dalva an der deutschen Nordseeküste (Quelle: Ehepaar Kriegel)
Liebe auf den ersten Blick in Rio

Die spannende Frage ist natürlich: Wie ist Joanna nach Deutschland gekommen? Ihr Mann erzählt, dass er während der Fußball-WM 2014 in Brasilien einen einheimischen Chatpartner suchte, der Englisch spricht. Es meldeten sich mehrere Leute, die aber gar kein Englisch sprachen, und eine ältere Professorin, die auch nicht infrage kam.

Dann blieb nur noch Joanna übrig. Nach unzähligen Chats trafen sich die beiden schließlich in Brasilien – und es war Liebe auf den ersten Blick. Später flog Joannas Mann erneut nach Rio, dieses Mal mit dem festen Entschluss, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Joanna sagte Ja und kehrte mit ihm nach Deutschland zurück. „Zurzeit macht sie in Chemnitz eine Ausbildung als Altenpflegerin“, berichtet Christel Kriegel. „Ihre Ausbildung, die sie nach Ende der Patenschaft in Brasilien absolvierte, wurde hier leider nicht anerkannt.“

Seit jenem ersten Treffen machen sich jeweils Kriegels sowie Joanna und ihr Mann einmal jährlich auf die fast 500 Kilometer weite Reise nach Freckenhorst bzw. nach Chemnitz. Dieses Jahr kam Corona dazwischen, deshalb stehen Besuch und Gegenbesuch noch aus. Für die Brasilianerin sind ihre früheren Paten hier in Deutschland eine Art Elternersatz – vor allem, seit ihre eigene Mutter inzwischen verstorben ist.

Joanna bei einem Fahrradausflug mit ihren ehemaligen Paten (Quelle: Jürgen Kriegel)
Joanna Dalva bei einem Fahrradausflug mit ihren ehemaligen Paten (Quelle: Jürgen Kriegel)
Die Geschichte einer Patenschaft, die man weitererzählen muss

Kriegels feierten im vergangenen Jahr ihre Goldene Hochzeit und baten anstelle von Geschenken um Spenden für die Kindernothilfe. Sie erzählten ihren Gästen auch die unglaubliche Geschichte von Joanna. Die Tatsache, dass Paten ihr früheres Patenkind treffen und erzählen können, was dank der Patenschaft aus ihm geworden ist, war vielleicht noch ein weiterer Anreiz für die Spendenfreudigkeit der Festbesucher. „Es sind fast tausend Euro für ein Projekt in Pakistan zusammengekommen“, freut sich Christel Kriegel.

Eine wahre Geschichte, die wie ein Märchen klingt. Die Kindernothilfe freut sich mit Kriegels und Joanna und wünscht ihnen noch viele, wundervolle Treffen!

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Autor: gunhildaiyub

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  1. Jana John

    Diese Geschichte ist wunderschön, zumal ich davon schon etwas wusste. Ich durfte Joanna die deutsche Sprache beibringen. Sie besuchte die Vorbereitungsklasse an einem Berufsschulzentrum in Chemnitz und ich war ihre Lehrerin. Sie erzählte mir damals alles über das erste Treffen mit ihren Paten. Das fand genau in dieser Zeit statt.
    Ich bin überglücklich, dass es Menschen gibt, die sich für andere einsetzen.
    Joanna hat mir den Link dieses Artikels zugesandt. Das zeigt, dass ich auch ein bisschen an ihrer Entwicklung beitragen konnte. Ein schönes Gefühl.

    1. gunhildaiyub

      Liebe Jana John, danke schön für Ihre liebe Antwort. Ja, wir waren auch völlig überwältigt von dieser schönen Geschichte! Nach Jahren zu erfahren, was aus Kindern geworden ist, die unsere Paten gefördert haben, ist immer ein besonderes Highlight unserer Arbeit. Ihnen alles Gute! Liebe Grüße – Gunhild Aiyub, Pressestelle der Kindernothilfe

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