Venezuela – eine Katastrophe in Zeitlupe

Demonstration für freie Wahlen in Venezuela. (Quelle: The Photographer [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)])
Demonstration für freie Wahlen in Venezuela. (Quelle: The Photographer [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)])
Slow-motion catastrophe – Katastrophe in Zeitlupe – nennt die britische Zeitung The Guardian das Versinken Venezuelas in Armut, Korruption und Gewalt. In Venezuela sowie den Nachbarländern, in die viele Venezolaner flüchten, sind die humanitären Verhältnisse miserabel. Die Kindernothilfe unterstützt mithilfe diverser Partnerorganisationen und weiteren Hilfsorganisationen die Entwicklungen im Norden Lateinamerikas.

Text: Jürgen Schübelin

Jedes dritte Kind in Venezuela ist stark unterernährt

Nie zuvor in der lateinamerikanischen Geschichte hat es einen in dieser Dimension vergleichbaren Absturzprozess gegeben: Die Hyperinflation beträgt nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Jahr 2019 erneut über 200.000 Prozent. Die Folge: Neun von Zehn Menschen in dem Staat an der Karibikküste besitzen nicht mehr genügend Einkommen, um die tägliche Ernährung sicherzustellen.

Der gesetzliche Mindestlohn (zwei bis drei US-Dollar pro Monat), den sieben von zehn Beschäftigten in Venezuela verdienen, steht in groteskem Gegensatz zu den Preisen für Lebensmittel. Die Folge: Mehr als jedes dritte Kind in Venezuela ist stark unterernährt. Die dramatischsten Folgen von Armut und extremer Armut sind zu spüren. Denn die Lebensmittelprogramme der Regierung wirken nur sehr sporadisch – oder gar nicht.

Ein alter Mann füttert ein Kind auf seinem Schoß. (Quelle: Jürgen Schübelin)
In ganz Venezuela sind kirchliche Suppenküchen mit Tausenden von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern für viele Menschen die letzte Chance, eine Mahlzeit zu erhalten. (Quelle: Jürgen Schübelin)

Der Zerfall des einstmals reichsten südamerikanischen Landes ist überall mit Händen zu greifen: Die Stromversorgung funktioniert nur noch mit großen Unterbrechungen, Telefon- und Mobilfunknetze sind praktisch zusammengebrochen. Und es gibt in dem Land, das mit Abstand über die weltweit größten Schwerölreserven verfügt, kaum noch Benzin für die Einheimischen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sprach bereits 2018 von einem „völlig kollabierten öffentlichen Gesundheitssystem“, in dem es an allem fehlt: an medizinischem Material aller Art, Medikamenten – aber vor allem an Ärzten und Pflegepersonal.

Politische Ausweglosigkeit

Bereits 2018 wurde augenfällig, wie polarisiert und extrem gespalten die venezolanische Gesellschaft den Niedergang ihres Landes erlebt. Schon seit geraumer Zeit sind die Konfrontation und die Verhärtung zwischen den beiden Lagern des Landes allgegenwärtig. Aktuell spitzen sich die politischen Auseinandersetzungen noch mehr zu: Auf der einen Seite Juan Guaidó, Präsident der venezolanischen Nationalversammlung. Ihm gegenüber steht Staatspräsident Nicolás Maduro, dessen Wiederwahl im Mai 2018 die meisten westlichen Länder wegen massiver Manipulation nicht anerkennen.

Menschen in Venezuela durchwühlen den Müll nach Essbarem. (Quelle: Jamez42 [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)])
Seit Mitte des Jahres 2019 scheint das Ringen um die Macht im Land jedoch entschieden: Der Versuch Guiadós, die Streitkräfte auf seine Seite zu ziehen und das Maduro-Regime zum Rücktritt zu zwingen, ist gescheitert. Der Grund: Maduto erfährt unter anderem aus Kuba, Russland, China und der Türkei Rückendeckung. Auch die krude Politik der US-Administration unter Trump hat nach Auffassung verschiedener Analysten dazu beigetragen. Maduro ist es bislang gelungen, unter diesem internationalen Druck die Spitzen der Streitkräfte und andere Teile der venezolanischen Machtelite, die um ihre Privilegien und Pfründe fürchten, hinter sich zu scharen. Nicht zuletzt tragen sie Sorge, bei einem Regimewechsel wegen Korruptionsverbrechen vor Gericht zu landen.

Humanitäre Hilfe-Kooperation – Medikamentensendung nach Venezuela

Venezuela gehört nicht zu den acht Partnerländern der Kindernothilfe in Lateinamerika. Trotzdem entschied der Kindernothilfe-Vorstand im Anschluss an eine Recherche-Reise im Juni 2018 nach Venezuela, Medikamenten- und Hilfsgüterlieferungen mitzufinanzieren. Dabei kooperierte die Kindernothilfe mit action medeor in Tönisvorst und Adveniat in Essen, die sich im Herbst 2018 der „Ökumenischen Venezuela-Kontaktgruppe“ angeschlossen hatten.

Demonstration für freie Wahlen in Venezuela. (Quelle: The Photographer [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)])
Demonstration für freie Wahlen in Venezuela. (Quelle: The Photographer [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)])
Erste Container mit Medikamenten und Spezialnahrung für Kinder mit extremen Unterernährungsproblemen konnten – finanziert von der Kindernothilfe – im Spätsommer 2019 an die Erzdiözese Barquisimeto geliefert werden. Dort konnten sie über die entsprechenden Diözesan- und Caritas-Strukturen auch an ökumenische Netzwerke zu verteilen.

Eine noch nie dagewesene Massenmigration

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind allein seit November 2018 eine Million Venezolaner aus ihrer Heimat geflohen. Damit leben mittlerweile rund vier Millionen der etwa 31 Millionen Venezolaner im Ausland. 2015 waren es lediglich 695.000. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) befürchtet, dass die Zahl der Flüchtlinge aus Venezuela bis Ende 2020 sogar auf mehr als 8,2 Millionen Menschen steigen könnte.

Die allermeisten der Geflohenen landen in den lateinamerikanischen Nachbarländern. Allein in Kolumbien leben inzwischen 1,3 Millionen Venezolaner, Peru hat 768.000 Menschen aufgenommen. In der gesamten lateinamerikanischen Geschichte seit den Unabhängigkeitskriegen und den Loslösungen von Spanien und Portugal gibt es keine vergleichbare humanitäre Krise mit derart gewaltigen Flüchtlingsströmen.

Während den Geflohenen in den Aufnahmeländern zunächst durchaus Sympathie und Solidarität entgegengebracht wurde, ist inzwischen die Stimmung fast überall gekippt. Den neu Hinzukommenden schlagen vielfach blanker Hass, Rassismus und Ablehnung entgegen.

Eine Kindergärtnerin mit Kindern. (Quelle: Jürgen Schübelin)
Kirchliche Projekte, wie hier der Kindergarten der ev.-lutherischen Gemeinde von Valencia, leisten in Venezuela einen ganz wichtigen Beitrag, um sich der Hoffnungslosigkeit entgegen- zustemmen. (Quelle: Jürgen Schübelin)
Zusammenarbeit mit Kindernothilfe-Partnerorganisation in drei Nachbarländern

In Peru kooperiert die Kindernothilfe mit ihrem langjährigen Partner Paz y Esperanza in mehreren Armenvierteln von Lima. Das einjährige Projekt soll die Bildungssituation von Flüchtlingskindern sowie ihren Schutz vor Gewalt verbessern. Zu dem Humanitäre-Hilfe-Etat, der die finanzielle Grundlage für das Projekt schafft, steuert die Kindernothilfe für 2019 53.300 Euro bei.

In der ecuadorianische Hauptstadt Quito unterstützt die Kindernothilfe eine Selbsthilfeorganisation von Geflüchteten aus Venezuela. Im Rahmen eines ebenfalls zunächst einjährigen Projektes steht der non-formale-Unterricht von 150 Mädchen und Jungen im Mittelpunkt. Hier geht es vor allem darum, Lernrückstände abzuarbeiten und diese Kinder darauf vorzubereiten, wieder zur Schule gehen zu können. Dieses Projekt, das den Titel Aulas Móviles (Mobile Klassenzimmer) trägt, hat auch eine ganz starke psychosoziale Komponente. Die für diese Arbeit benötigten 60.000 Euro kommen aus dem regulären Lateinamerika-Haushalt der Kindernothilfe.

Eine dritte Initiative legte der Kindernothilfe die brasilianische Partnerorganisation Instituto Aliança aus Salvador de Bahia nahe. Auch bei dieser Arbeit geht es um psychosoziale Unterstützung, die Stärkung des Selbstbewusstseins der Kinder und um Hilfe beim Spracherwerb. In diesem Fall konnten die benötigten Geldmittel in Höhe von 24.100 Euro aus dem Kindernothilfe-Konkret-Helfen-Budget aufgebracht werden.

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Autor: Kindernothilfe e.V.

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