Haiti: Überleben als heroischer Akt

(Quelle: Voice of America)

In Lateinamerika brennt es lichterloh. In keinem lateinamerikanischen Land stellt sich die Lage dabei so katastrophal dar wie in Haiti – und gibt es gleichzeitig so wenig internationale Aufmerksamkeit. Marie Caridade Valcourt, die Koordinatorin des Selbsthilfegruppen-Programms der Kindernothilfe in Haiti, war zehn Tage lang in Duisburg, um dem entgegenzuwirken. Im Interview spricht sie über die aktuelle Lage in dem Karibikstaat.

Interview: Michaela Gerritzen, Julia Rodríguez, Jürgen Schübelin, 

Kindernothilfe: In Haiti reißen seit mehr als zwei Monaten die heftigen Proteste gegen die Regierung von Präsident Jovenel Moïse nicht ab. Im Kern geht es um die Anschuldigung, dass er Hunderte Millionen US-Dollar aus dem Petrocaribe-Hilfsfond unterschlagen hat. Haitianische Menschenrechtsorganisationen haben errechnet, dass bereits über 100 Personen bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei starben. Wie schaffen es die Menschen da, ihren Alltag hinzubekommen?

Der tägliche Kampf ums Überleben

Caridade: Das Organisieren des täglichen Überlebens in Haiti ist die eigentliche Herausforderung! An etwas zu essen zu kommen, irgendwie Wasserflaschen zu beschaffen, mit der ständigen Angst fertig zu werden … Da die ganze Stadt voller Barrikaden ist, selbst Fußgänger beschossen und angegriffen werden, ist es extrem schwer, überhaupt von einem Ort zum anderen zu gelangen.

Zerstörung nach Hurrikan Matthew. (Quelle: Jürgen Schübelin)

Kindernothilfe: Die Menschen in Haiti haben in den zurückliegenden Jahren entsetzliche Katastrophen erlebt. Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 mit über 250.000 Toten, danach verheerende Hurrikans wie zuletzt „Matthew“ Ende September 2016. Jedes Mal haben sich die Haitianerinnen und Haitianer gegen die Zerstörungen und die Hoffnungslosigkeit aufgebäumt. Was ist in dieser jetzigen Krise anders?

Caridade: Das Erdbeben von vor zehn Jahren zerstörte Teile der Hauptstadt und einige Städte in der Nachbarschaft. Und auch die Hurrikans verwüsteten immer nur einzelne Departments. Aber jetzt ist es das gesamte Land mit seinen mehr als 11 Millionen Menschen, das leidet. Die Protestwelle hat alle Landesteile erfasst. Nirgendwo mehr funktionieren die Strukturen. Die Straßenverbindungen sind blockiert, eine angemessene Versorgung der Bevölkerung ist nicht möglich. Und die Menschen verfügen einfach über keine Ressourcen und keine Kraftreserven mehr.

Die Erwachsenen stehen und Druck – und die Gewalt gegen Kinder nimmt zu

Kindernothilfe: Was ist dabei das größte Problem?

Caridade: Es ist der ständige Druck, der auf uns allen lastet. Jeder fürchtet um seine Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen können, weil auf den Straßen gekämpft wird. Nichts kann geplant werden. Alle Leute warten jeden Tag nur auf die Augenblicke, in denen gerade nicht geschossen wird, um zum Supermarkt zu hetzen und zu versuchen, irgendetwas zu ergattern. Die Preise sind seit dem Beginn der Proteste explodiert, weil – wie gesagt – die Belieferung mit Nahrungsmitteln nicht mehr funktioniert.

Nachdenklicher Junge (Quelle: Jakob Studnar)

Kindernothilfe: Was macht dieser Dauerstress, unter dem die Erwachsenen stehen, mit den Kindern?

Caridade: Wir sehen als Kindernothilfe-Haiti, dass Mädchen und Jungen in dieser Krise besonders exponiert und gefährdet sind. Unter den Todesopfern, die seit Anfang September zu beklagen sind, befinden sich zahlreiche Jugendliche. Die völlig aus dem Ruder gelaufene Bandenkriminalität hat zu einer starken Zunahme von Gewalt geführt und stellt ein ständiges Risiko für Kinder und Jugendliche dar. Und natürlich passiert genau das, was immer in extremen Krisen geschieht: Weil die Erwachsenen zu Hause unter solchem Druck stehen, nimmt auch die Gewalt in den Familien zu.

Es fehlt an internationaler Aufmerksamkeit

Kindernothilfe: Die UN haben im Oktober 2017 die Stabilisierungsmission MINUSTAH beendet und nach 13 Jahren alle internationalen Einheiten aus Haiti abgezogen. Viele Beobachter sagen, dass dieser Rückzug die Unsicherheit im Land deutlich erhöht hat …

Caridade: Das sehen wir auch so! Es zirkulieren große Mengen Waffen im Land. Und es tauchen immer neue Gangs auf, die ganze Stadtteile unter ihre Kontrolle gebrachte haben. Dazu kommen angebliche Polizisten in Fantasie-Uniformen, die daran beteiligt sind, die Menschen an den Straßenkontrollen und Barrikaden auszurauben. Mit dem Abzug der UN-Truppen haben das internationale Interesse und der Rest an Aufmerksamkeit für unser Land massiv abgenommen. Davon profitiert auch die Regierung von Jovenel Moïse, denn sie glaubt, sich gegenüber niemandem rechtfertigen zu müssen. Schließlich nimmt anscheinend niemand im Ausland mehr wahr, was in Haiti geschieht.

Selbsthilfegruppe in Haiti (Quelle: Jürgen Schübelin)
Wie steht es um die Frauen-Selbsthilfegruppen in Haiti?

Kindernothilfe: Mit 6.097 Frauen und mindestens 11.300 Kindern in 314 Gruppen ist das Selbsthilfegruppen-Programm das größte Kindernothilfe-Projekt in Haiti. Wie ergeht es den Frauen in dieser Krise? Können sie irgendeinen Beitrag leisten?

Caridade: Natürlich ist an ein normales Funktionieren der „groupes d’entraides“ – wie wir in Haiti sagen – nicht zu denken! Es ist seit dem Beginn der Proteste ja nicht möglich, dass die Frauen in eine der größeren Städte kommen könnten. Folglich können sie auch nichts einkaufen, um es dann hinterher in ihrem Ort weiterzuverkaufen. Es gibt derzeit im Land keine funktionierenden Märkte und auch keine Transportmittel. Deshalb haben viele der Gruppen ihre Strategie geändert und versuchen, einfache Dinge des täglichen Bedarfs anzubieten und zu produzieren. Die dafür notwendigen Rohstoffe können sie sich in der unmittelbaren Nachbarschaft besorgen.

Selbsthilfegruppe in Haiti (Quelle: Jürgen Schübelin)

Kindernothilfe: Und wie sieht es mit den wöchentlichen Treffen der Frauenselbsthilfegruppen aus? Können die stattfinden?

Caridade: Die Frauen stehen in intensivem Austausch untereinander. Sie versuchen, sich gegenseitig so gut zu unterstützen, wie es irgendwie geht. Aber ein Problem besteht derzeit darin, dass ja in allen Gruppen mit Bargeld gearbeitet wird. Bei den Frauen herrscht große Angst, überfallen und bestohlen zu werden. Trotzdem versuchen sie sich weiter zu treffen. Denn in den Gruppen sehen die Frauen für sich eine Perspektive: Hier sind sie nicht die Opfer, sondern haben für sich und ihre Kinder einen Weg gefunden, diesem Wahnsinn etwas entgegen zu setzen.

Marie Caridade Valcourt ist Haitianerin, von ihrer ersten Ausbildung her Sozialarbeiterin, mit einem Masterstudium in Strategie-Management und nachhaltiger Entwicklung. Seit sechs Jahren koordiniert sie das Kindernothilfe-Selbsthilfegruppen-Programm in Haiti (84993) und ist in dieser Funktion Teil des Kindernothilfe-Haiti-Teams in Port-au-Prince. Seit dem Start des Programms in dem Karibikstaat 2011 haben die Frauen aus den 314 Gruppen ein Kapital von 183.905 Euro aufgebaut – und Darlehen über 476.150,00 Euro vergeben.

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Autor: Kindernothilfe e.V.

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