Chile: Kinderrechte sind eine „offene Wunde“

Wenn das schmale Land an der lateinamerikanischen Pazifikküste in unseren Medien auftaucht, geht es im besten Fall um guten Wein. Im schlechtesten Fall jedoch ist die scheinbar endlose Serie von sexuellen Kindesmissbrauchsfällen in der katholischen Kirche das Thema. David Ordenes, 69, Direktor der Nichtregierungsorganisation La Caleta, Sozialpädagoge und renommierter chilenischer Kinderrechtsspezialist, besuchte im Sommer verschiedene Partnerorganisationen in Europa. Anderthalb Tage lang machte er auch bei der Kindernothilfe Station. Im Gespräch mit Jürgen Schübelin ringt er um einen differenzierten Blick auf Chile.

Keine Rechtsgrundlage für die UN-Kinderrechtskonventionen

Das Ende der Pinochet-Diktatur ist 29 Jahre her. Warum gibt es in Chile – anders als in den meisten Nachbarländern – noch immer kein umfassendes Schutzgesetz für Kinder- und Jugendrechte?

David Ordenes: Dieses Thema ist eine offene Wunde für alle, die seit nunmehr fast drei Jahrzehnten ohne Erfolg für dieses Gesetz kämpfen. Denn ein solches legales Rahmenwerk würde die Politik in Chile grundlegend verändern. Aktuell stellen staatliche Institutionen mal hier, mal da für die eine oder andere Spezialgruppe ein paar finanzielle Mittel zur Verfügung. Eine einklagbare Rechtsgrundlage für die in der UN-Kinderrechtskonventionen garantierten Rechte von Mädchen und Jungen würde alles ändern.

Denn sie würde zwangsläufig eine völlig andere Bildungs- und Gesundheitspolitik in Chile bedeuten. Das ungezügelte Geschäftemachen mit Bildung und Gesundheit hätte sofort ein Ende. Doch genau dazu sind viele Parlamentarier und andere, die politisch Verantwortung tragen, nicht bereit. Zahlreiche Abgeordnete sind als Personen – oder über ihre Familien – geschäftlich in Privatschulen, Privat-Unis oder im kommerziellen Gesundheitsbereich engagiert. Sie haben deshalb nicht das geringste Interesse, die Rahmenbedingungen für diese höchst lukrativen Geschäftsfelder zu verändern.

„Es fehlt der politischen Wille, an der unerträglichen sozialen Ungerechtigkeit etwas verändern zu wollen“

Was können denn Nichtregierungsorganisationen oder weitere Akteure aus der Zivilgesellschaft tun? Gibt es in dieser ungleichen Auseinandersetzung überhaupt irgendeine Chance?

David Ordes:  Ja, die gibt es! Die Lehrerinnen und Lehrer aus den chronisch unterfinanzierten öffentlichen Schulen streiken aktuell für eine gerechtere Bezahlung – und erhalten breite Unterstützung. Auch mit Protesten von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden solidarisieren sich Menschen aller Generationen. Chile ist kein armes Land. Die Ressourcen, um allen Kindern und Jugendlichen eine Bildung mit Qualität zu ermöglichen, gäbe es.

Nur fehlt es komplett am politischen Willen, um endlich am Grundübel, der unerträglichen sozialen Ungerechtigkeit, etwas verändern zu wollen. Wir haben 2012 ein Netzwerk von Organisationen aus dem Kinder- und Jugendrechtsbereich gegründet, das wir Movimiento Movilizándonos nennen (frei übersetzt: „Bewegung derer, die wir uns mobilisieren“). Bei allen unseren Aktionen in der Öffentlichkeit erleben wir sehr viel positive Resonanz. Ganz viele Menschen in diesem Land wollen wirklich etwas verändern!

Demonstration in Chile. (Quelle: Jürgen Schübelin)
Demonstration in Chile. (Quelle: Jürgen Schübelin)
Die Bühne der UN-Klimakonferenz nutzen

Ausgerechnet die chilenische Regierung richtet vom 2. bis 13. Dezember in Santiago die 25. UN-Klimakonferenz (COP25) aus. Was planen die chilenischen Kinderrechts-Organisationen rund um diese Konferenz?

David Ordenes: Es wird ein Zelt der Nichtregierungsorganisationen in unmittelbarer Nähe des Tagungszentrums in Cerrillos, im Süden von Santiago, geben. Die Kinder und Jugendlichen aus den verschiedenen Organisationen unseres Netzwerks werden mit ganz unterschiedlichen Aktionen auf ihre Forderungen aufmerksam machen. Aber es wird auch um Themen gehen, bei denen Chile und Europa gleichermaßen involviert sind:

So entstehen derzeit in der Atacama-Wüste im Norden Chiles gigantische Anlagen zum Lithium-Abbau, weil dieses Alkalimetall unverzichtbar für den Ausbau der Elektromobilität ist. Dafür werden unwiederbringlich die kostbaren Süßwasserreserven einer ganzen Region und damit die Lebensgrundlagen der dort lebenden Menschen zerstört. Es sind transnationale Konzerne, die kaum Steuern zahlen, die hier aber mit Billigung und Unterstützung durch die chilenische Regierung eine weitere ökologische Katastrophe anrichten. Wir wollen mit den Kindern und Jugendlichen während der COP25 auf diese Situation aufmerksam machen.

Kindermissbrauch als Systemproblem

Bei einem Thema fehlte es in den zurückliegenden Jahren allerdings nicht an Aufmerksamkeit für das, was sich da Chile abspielte. Mindestens 178 namentlich bekannte Kinder und Jugendliche sind von katholischen Geistlichen missbraucht worden. Warum hat es so lange gedauert, bis sich die chilenische Justiz jetzt endlich ernsthaft mit diesen Verbrechen beschäftigt?

David Ordenes: Nicht nur die Justiz hat hier versagt. In den Machtstrukturen der Kirche wurde jahrelang alles getan, um die Opfer nicht zu Wort kommen zu lassen. Auch in anderen Institutionen ist es zu brutaler Gewalt und sexuellem Missbrauch gekommen. Allein im staatlichen Kinder- und Jugenddienst SENAME (Servicio Nacional de Menores) und seinen Heimen im ganzen Land kommen wir wohl auf inzwischen über 1.400 Todesfälle mit Kindern und Jugendlichen. Jahrelang gab es kaum gesellschaftliches Interesse, um den Berichten von Insidern und Betroffenen Glauben zu schenken. Es handelt sich hierbei in Chile um ein Systemproblem: Die politisch Verantwortlichen räumen dem Kinderschutz wenig Priorität ein und verhindern stattdessen aktiv, diese Rechte zu garantieren.

Camilo Catrillanca bei einem Seminar unseres Partners ANIDE im Jahr 2011. (Quelle: ANIDE)
Camilo Catrillanca ist das jüngste Opfer der Polizeigewalt gegen Mapuche in Chile. Das Bild zeigt ihn bei einem Seminar unseres Partners ANIDE im Jahr 2011. (Quelle: ANIDE)
Kein funktionierender Rechtsstaat in Chile

Auch der Mord an dem jungen Mapuche Camilo Catrillanca hat in den zurückliegenden Monaten in Chile für Aufmerksamkeit gesorgt. Camilo hatte vor einigen Jahren an einem auch von der Kindernothilfe unterstützten Projekt zur Eindämmung von Gewalt gegen Mapuche-Kinder mitgewirkt. Hat dieser Mord vom 14. November etwas in der Öffentlichkeit und bei den politisch Verantwortlichen verändert?

David Ordenes: Nicht wirklich. Die Repression gegen Jugendliche, die sich in der Öffentlichkeit gegen die Diskriminierung und Ausgrenzung von Mapuche wehren, geht unvermindert weiter. Um den Mord an Camilo Catrillanca zu kaschieren und Spuren zu verwischen, wurde ein 15-jähriger Junge, Maikol, den die Polizisten ebenfalls mit ihren Schüssen schwer verletzt hatten, verhaftet und der Familie tagelang der Zugang zu ihm verweigert. Es gibt in Chile, wenn es um Übergriffe und exzessive Gewalt durch die Polizei geht, definitiv keinen funktionierenden Rechtsstaat. Wir haben als Kinderrechts-Netzwerk den Staat wegen dieser bewaffneten Polizeieinsätze und den dabei begangenen Menschenrechtsverletzungen immer wieder angezeigt. Die Kindernothilfe hat uns bei diesen Vorstößen und Inzidenz-Anstrengungen immer wieder auch finanziell unterstützt. Aber wir brauchen einfach noch deutlich mehr internationale öffentliche Aufmerksamkeit für das, was in diesem Land vor sich geht.

Menschenunwürdige Situation für Geflüchtete

Welche anderen Gruppen neben den Mapuche-Kindern und -Jugendlichen bereiten Kinderrechtsorganisationen in Chile die meisten Sorgen?

David Ordenes: Eindeutig die Situation der Mädchen und Jungen aus Haiti: Die chilenische Statistikbehörde INE geht davon aus, dass etwa 180.000 Menschen aus Haiti nach Chile kamen. Sie fliehen vor extremer Armut und Gewalt. Das sind aber nur die offiziellen Zahlen. Die Situation dieser Menschen, und vor allem der Kinder, ist zu einem großen Teil schlicht katastrophal. Die allermeisten der Immigranten aus Haiti leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Dabei werden sie als Billigst-Arbeitskräfte ausgebeutet – und sind Opfer eines unverhohlenen Rassismus und einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit. In vielen Projekten, die zu unserem Netzwerk gehören, machen die Mädchen und Jungen aus Haiti inzwischen rund ein Drittel der beteiligten Kinder aus.

Die Regierung in Chile unternimmt so gut wie nichts, um die Rechte dieser Menschen zu schützen. Es sind wieder einmal die Nichtregierungsorganisationen, aber auch Kirchengemeinden und die Nachbarn in den Armenvierteln, die sich engagieren. Auch dieses Thema bedarf dringend mehr internationaler Aufmerksamkeit. Deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen und Institutionen in Europa wieder deutlich intensiver nach Lateinamerika blicken – und etwas weniger auf sich selbst. Das ist für unsere Arbeit unverzichtbar!

 

David Ordenes ist Direktor der chilenischen Nichtregierungsorganisation La Caleta (frei übersetzt: „Die Schützende Bucht“), mit der die Kindernothilfe fast zwei Jahrzehnte engagierte Kooperation verbinden. Er wirkte als Vertreter der Zivilgesellschaft und des Netzwerkes der chilenischen Kinder- und Jugendrechtsorganisationen (Red ONGs Infancia y Juventud – Chile) mit, einem ebenfalls von der Kindernothilfe unterstützten Bündnis, und zwar während der gesamten zweiten Amtszeit von Präsidentin Michelle Bachelet (2014 – 2018) im von der Regierung einberufenen Nationalen Kinderrechtsrat (Consejo de la Infancia).

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Autor: Kindernothilfe e.V.

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