Haiti ist in Aufruhr: Seit mehr als einer Woche demonstrieren die Menschen gegen den amtierenden Präsidenten Jovenel Moïse. Sie werfen ihm vor, Korruptionsermittlungen gegen die Regierung seines Vorgängers und Ziehvaters Michel Martelly zu behindern. Die wütenden Proteste haben bereits mindestens elf Menschenleben gefordert. Auch unsere Projekte sind unmittelbar davon betroffen.
Text: Jürgen Schübelin
Gestern informierte uns eine Mitarbeiterin unseres Haiti-Büros, dass sich unter den Toten auch ein Kind befindet. Es gehörte zu einer von uns unterstützten Selbsthilfegruppen in Port-au-Paix im Nordosten Haitis. Dem Bericht zufolge wurde das Kind erschossen, doch sind uns die genauen Umstände unbekannt. Wir trauern mit den Angehörigen und hoffen mit ihnen, dass die Gewalt der Proteste nicht weiter um sich greift.
Mitarbeiter eines Projekts in der Hauptstadt Port-au-Prince gaben an, dass wegen der Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten der Schulbetrieb im College Verena bereits in der vergangenen Woche eingestellt werden musste. Im ganzen Land blieben Schulen und öffentliche Einrichtungen geschlossen.
Inzwischen berichtete sogar die Tagesschau über die aktuelle Lage in Haiti. Auch in der Neuen Zürcher Zeitung findet sich ein ausführlicher Artikel. Demnach blockieren die Demonstranten die Einfallstraßen der Hauptstadt und fordern lautstark den Rücktritt des Präsidenten. Im Gegensatz zu den vergangenen Protestwellen im August und Oktober im Gefolge einer geplanten Erhöhung der Benzinpreise ist das Wutpotenzial dieses Mal besonders hoch.
3,8 Milliarden Dollar veruntreut
Bei den Auseinandersetzungen geht es um massive Korruptionsvorwürfe gegen eine ganze Riege hochrangiger Politiker und einflussreicher Geschäftsleute. Sie sollen nach dem schweren Erdbeben von 2010 internationale Hilfsgelder in Höhe von 3,8 Milliarden Dollar unterschlagen haben. Die ohnehin gewaltige Summe gewinnt noch an Sprengkraft in einem Land, das als das ärmste der westlichen Hemisphäre gilt und in dem etwa die Hälfte der Bevölkerung von einem Dollar pro Tag lebt.
Weiterhin wird Präsident Moïse für den aktuellen Korruptionsskandal mitverantwortlich gemacht. Zudem machen die Menschen durch die Proteste auch ihren Enttäuschungen Luft: Bereits bei seiner Wahl vor 21 Monaten hatte der Präsident Verbesserungen der Lebensbedingungen versprochen. Bis heute sind diese nicht eingetreten. Dennoch schließt Moïse einen Rücktritt kategorisch aus.
Die Lage in Haiti ist aktuell in praktisch allen Städten extrem angespannt und gefährlich. Das Kindernothilfe-Büro in Port-au-Prince funktioniert derzeit nur mit Einschränkungen. Um die Mitarbeiter zu schützen, haben wir mit ihnen vereinbart, dass nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr unterwegs ist. Wir beobachten die Entwicklungen der Proteste intensiv weiter und stehen in engem Kontakt mit unserem Team vor Ort.